Dienstag, 31. Juli 2007

Thesen und Tatsachen III – Kronkorken oder Pfefferminztee


Es gibt Aussagen, die schreien geradezu nach Zustimmung. Die dritte These des Projekts rethinking business ist so ein Fall. Im Detail ist dann aber doch etwas schwieriger.

These # 03
Nur offene Gesellschaften sind kreativ. Die Demokratie ist ein vergessener Standortfaktor.

Richtig! Man muß schon mal die Zähne zeigen, gegen die Putins, Kim Jong-ils, Mahmūd Ahmadī-Nežāds und die anderen Fundamentalisten, Despoten und Diktatoren in dieser Welt. Demokratie wollten wir nicht mißen, selbst wenn sie kein Standortfaktor wäre. Also warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?

Diese Be- trachtungsweise ist zumindest originell. Standortfaktoren sind weich oder hart. Harte Standortfaktoren wie Steuern, Abgaben, Infrastruktur, Lohnkosten und viele andere mehr, stehen auf der Checkliste der internationalen Konzerne ganz oben, wenn es darum geht zu entscheiden: Verlagere ich meine Kronkorkenproduktion nach Usbekistan oder nach Indien? Die weichen Standortfaktoren wie Wirtschaftsklima, Bildungsangebot, Umweltqualität, Kulturangebot kommen ins Spiel, wenn statt der Kronkorkenproduktion, die Kronkorkenforschung ausgelagert werden soll. Und da ist Demokratie ein weiterer weicher Standortfaktor.

Für Kronkorkenforscher sind Demokratien viel angenehmer als Diktaturen oder fundamentalistische Regime. Sie können sich im Internet anschauen, was sie wollen, können nach der Arbeit einen Trinken gehen, sich mit anderen Kronkorkenforschern treffen und sich - falls nötig - gewerkschaftlich organisieren. Die Elite der Kronkorkenforschung könnte man kaum mit dem Angebot locken, “Leute kommt nach Machatschkala, wir machen hier ne große Sause.” Nach Fallingbostel kämen sie vielleicht schon.

Nehmen wir wieder das Beispiel iPod aus dem Beitrag zur ersten These. Für die Entscheidung, wo der iPod produziert und zusammengebaut wird, zählen die harten Standortfaktoren. Für die Entscheidung, wo er ersonnen und konzipiert wird, zählen die weichen. Deshalb ist vollkommen unklar, was Demokratie als Standortfaktor im globalen Wettbewerb wirklich bringt.

Sind offene Gesellschaften kreativ? Ich erinnere mich an meine Besuche in der zerfallenden DDR der späten 80er Jahre. Alle Menschen mit denen ich sprach, waren in höchstem Maße darauf trainiert, die Lücken im System in kreativer Weise auszunutzen. Es gab da inmitten der Mangelwirtschaft prachtvolle Datschen und wohlhabende Handwerker. Jeder einzelne hatte die Fähigkeit entwickelt mit den Unzulänglichkeiten des Systems zurechtzukommen. Allerdings: Wenn der Einzelne in einer Gesellschaft kreativ ist, heißt das noch lange nicht, dass die Gesellschaft kreativ ist. Schließlich ist die DDR untergegangen.

Aber ist die Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts eine kreative Gesellschaft? Ich fürchte die Antwort ist nein. Wir sind sicherlich eine Gesellschaft, die dem Individuum große Freiräume garantiert – eben eine Demokratie. Diese individuellen Freiheiten erzeugen eine gewisse Dynamik, die zu Innovationen führt – zu Innovationen in den klassischen Ingenieursdisziplinen, weil wir hier immer noch Weltmeister sind. Aber sind wir Vorreiter bei sozialen Innovationen und Vorbild in Bezug auf die Dynamik des politischen Systems? Die Antwort ist nein.

Als Ethnologe hüte ich mich die Reichweite meines kulturellen Horizonts auf die ganze Welt anzuwenden. Nehmen wir noch einmal den iPod als Beispiel. Warum wurde der iPod nicht in Marrakesh erfunden, in Damaskus, Islamabad, Tiflis oder Machatschkala? Weil das Produkt iPod nur in das kulturelle Muster einer marktwirtschaftlichen Ordnung passt, die der Freiheit des Individuums als Konsument einen hohen Wert beimißt. Das "i" steht nicht nur für die Eitelkeit von Steve Jobs ("I made it!") sondern vor allem für das Personalpronomen in der ersten Person Singular: Ich.

Der iPod steht für meine persönliche Freiheit. Er steht für meine Freiheit überall und zu jeder Zeit meine Musik hören zu können, meine Bilder bei mir zu haben und meine Videos anschauen zu können. Den iPod gibt es, weil es eine technische Infrastruktur gibt, eine Zielgruppe im kaufkräftigen Teil der Welt, einen Businessplan, eine globale Lieferkette und ein kulturelles Muster, auf das er passt, wie der Kronkorken auf die Flasche.

Wo in Teehäuser Pfefferminztee getrunken wird, denkt man nicht an Kronkorken. Was nicht heißt, dass es dort weniger kreativ zugeht, als in Cupertino.


Das Foto stammt aus Wikipedia und steht unter Creative Commons Licence

Montag, 30. Juli 2007

Autopoietische Systeme als mobile Plakatflächen


“Ein Plakat ist eine Fläche die ins Auge springt!” heißt ein inzwischen vergriffenes Buch von Hans Hillmann und Gunter Rambow. Für den Springreitsport ist das eine Aussage mit Zukunftspotenzial.

Im Vorfeld der Springreiter Europameisterschaft vom 14. bis 19. August in Mannheim wurde vom Veranstalter, der Fédération Equestre Internationale (FEI) mit Sitz in Lausanne, die Aktion 100 Favoriten – unser Pferd für die EM gestartet. Schulen und Bildungseinrichtungen bemalten 100 Pferde aus Fiberglas. Die Ergebnisse sind seit einigen Wochen in den Straßen Mannheims zu sehen.

Was zunächst wie ein harmloser Kreativitätswettbewerb aussah, hat höchst wahrscheinlich einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund. Andere global agierende Sportverbände mit Sitz in der Schweiz, wie die FIFA oder das Internationale Olympische Komitee, sind der FEI, was die Vermarktung ihres Sports betrifft, weit enteilt. Die Aktion 100 Favoriten – unser Pferd für die EM hat als eigentliches Ziel, die Tauglichkeit von Sprinpferden als aufmerksamkeitsstarke Werbeträger zu erforschen.

Man stelle sich vor: Pferde tragen in Zukunft hautenge und atmungsaktive Ganzkörper- anzüge, mit denen Sponsoren ihre Botschaften mitten ins Herz der zahlungs- kräftigen Zielgruppe der Pferdesportbegeisterten springen lassen können. Da winkt ein Riesengeschäft. Mit einem der Prototypen (siehe nebenstehendes Bild), will man vermutlich einen Giganten der Softdrink-Branche von der Idee überzeugen. Auch das Pentagon und Fleurop scheinen interessiert (siehe die Bilder unten).

Die einzige Hürde für eine erfolgreichere Vermarktung des Springreitsports – gleichsam der Doppelochser mit Wassergraben – ist: Zaumzeug, Sattel und Reiter stören das Konzept. Der Reiter lenkt durch sein Gezappel die Zielgruppe von den Botschaften ab. Der Sattel würde die Werbefläche teilweise verdecken. Ohne Sattel und Reiter ist Zaumzeug sowieso überflüssig. Vermutlich denkt man im Hauptquartier der FEI darüber nach, Pferde künftig als autopoietische Systeme aufzufassen, die aus Gründen der Selbsterhaltung auch ohne Reiter den Weg über den Parcours finden. Was in experimentellen Forschungen und in der Praxis mit Eseln (Mohrrübe) und Windhunden (falsche Hasen) funktioniert, sollte für ein durchschnittlich intelligentes Pferd eigentlich kein Problem sein.

Ich könnte mir vorstellen, dass die Pferde hier sehr schnell Zustimmung signalisieren würden. Wäre es doch eine erhebliche Erleichterung für sie, den Parcours ohne die Teils nervösen, Teils ängstlichen und Teils hilflosen Steuerungsversuche ihres menschlichen Ballasts zu bewältigen. Großer Widerstand ist allerdings von den Sattelproduzenten, Zaumzeugherstellern und Reitern zu erwarten. Die einen wollen weiterhin ihre Produkte absetzen und die anderen wollen auf's Siegertreppchen.

Reiter sollten sich, obwohl sie in der FEI über eine einflußreiche Lobby verfügen, darauf einstellen, dass es in Zukunft im Pferdesport auch ohne sie gehen könnte. Auch sprachlich könnte man sich dann kürzer fassen. Man müßte nicht mehr Ross und Reiter nennen. Das Ross würde genügen. Als Alternative für arbeitslose Reiter bietet sich die Trendsportart Parkour an. Nicht nur wegen der phonetischen Ähnlichkeit von Parcours und Parkour sei dies empfohlen. Beim Parkour geht es ebenfalls nur darum, in kürzester Zeit Hindernisse zu überwinden – allerdings ohne Pferd. Hautenge und atmungsaktive Ganzkörperanzüge für die Athleten befinden sich bereits in der Entwicklung. Viel Spaß, wünsche ich den deutschen Springreitern als Fläche, die ins Auge springt.


Die Fotos stammen vom Autor des Beitrags und stehen unter Creative Commons Licence

Sonntag, 29. Juli 2007

Zum Stand der Demutsforschung in Deutschland


Ginge es nur darum, kurz zu referieren, wie in Deutschland über Demut geforscht wird – wir wären bereits am Ende angelangt. Die Demutsforschung ist in Deutschland nicht existent. Wahrscheinlich gibt es sie nirgends auf der Welt. Das könnte sich als Fehler erweisen.

Die Anzeichen mehren sich, dass eine – selbstverständlich interdisziplinär zu organisierende – Demutsforschung eine große Zukunft haben könnte. Damit ist nicht unbedingt gemeint, dass die Bild-Zeitung die Demutsgeste von Willy Brandt vor dem Ehrenmal des jüdischen Gettos in Warschau für ihre Leserwerbung benutzt. Ein Anzeichen dafür ist eher der inflationäre Gebrauch des Wortes Nachhaltigkeit. Der Begriff der Nachhaltigkeit definiert die ethische Maxime für zukünftiges globales Handeln: “Entwicklung zukunftsfähig zu machen,” und dafür zu sorgen, “dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.” Diese Formulierung stammt aus dem Abschlußbericht der Brundtland-Kommission von 1987, die sich im Auftrag der UN mit dem Thema Umwelt und Entwicklung befasste. Nicht ganz unerheblich ist, dass der Begriff aus der Forstwirtschaft stammt und dort eine Wirtschaftsweise bezeichnet, bei der immer nur so viel Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann. Das klingt doch nachhaltig vernünftig.

Man mag sich fragen, was das mit der zukünftigen Bedeutung der Demutsforschung zu tun hat. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muss man die lateinische Übersetzung des Wortes bemühen. Demut, lateinisch humilitas – von humus abgeleitet – ist gewissermaßen der Boden, aus dem der Samen der Gnade zur Frucht heranwächst. Wald, Samen, Frucht – na, klingelt irgendwas?

Die Formulierung “der Samen der Gnade” weist uns den Weg in die Nische, in der die Demut das Zeitalter der Aufklärung, des unbeschränkten Wachstums und der wissenschaftlichen Rationalität überleben konnte. Demut ist heute ein ausschließlich vom Christentum besetzter Begriff – die jüdische Religion und den Islam wollen wir jetzt mal unberücksichtigt lassen. Demut steht für ein gottgefälliges, schicksalsergebenes, bescheidenes, selbstloses, dienendes und demütiges Leben. Kein Wunder, dass der Begriff vermodert riecht. Frank Zappa hat sich übrigens in ähnlicher Weise über Jazz geäußert haben. Überliefert ist folgendes Zitat: “Jazz ist nicht tod. Er riecht nur etwas streng”.

Immanuel Kant versuchte vor über 200 Jahren, dem Begriff der Demut einen zukunftsweisenden Drall zu geben. “Mit der wahren Demut”, so schrieb er, “ist zugleich Erhebung, Selbstschätzung der eigenen inneren Würde (als sittliches Wesen) verbunden.” Und unserem “Eigendünkel” sollte durch Demut eine enge Grenzen gesetzt sein. Man hat in den letzten 200 Jahren nicht auf ihn gehört.

Kein Wunder, dass wir uns jetzt wieder an dieser Stelle befinden. Heute jedoch stehen die Zeichen gut, die Demut aus dem Sarg des konservativ-christlichen Miefs zu befreien. Die Belege dafür will ich nicht schuldig bleiben.

Erstens: Die Berner Tageszeitung Der Bund titelte in seiner Ausgabe vom 31. Mai 2005 über den Eidgenossen und Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank Josef Ackermann: “Demut statt Arroganz”. Die ganze deutschsprachige Wirtschaftspresse hat seither das Thema Ethik und Demut für sich entdeckt.

Zweitens: Wenn bereits der intelligentere Teil der Erstligapieler der Deutschen Fußballbundesliga den Begriff Demut benutzt, dann können wir hoffen, dass bald auch Uli Hoeneß den Weg zur Demut findet. Sebastian Kehl sagte in einem Interview mit sport1 auf die Frage, ob Borussia Dortmund in der kommenden Saison wieder zum Kreis der Topteams zähle: “(...) wir sollten nicht vergessen, dass wir ein sehr schwieriges Jahr hinter uns haben. Ein wenig Demut ist immer noch angebracht. Wir dürfen nicht wieder in höchsten Sphären denken.”

Drittens: Mein Freund Jochen legte mir vor einigen Wochen einen Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf den Tisch, der mit den Worten schloß: “Dann erreicht man vielleicht sogar das, was (…) die Grundvoraussetzung für erfolgreiches Problemlösen ist:'fröhliche Demut.'” Der Artikel hatte die Überschrift “Durchwurschteln, aber richtig!” Es ging um die Frage, wie der menschliche Geist mit komplexen Entscheidungssituationen am besten fertig werden kann. Durchwurschteln, in Verbindung mit einem wachen Geist und einer hohen strategischen und taktischen Flexibilität, ist eine der erfolgreichsten Methoden. Die Voraussetzung dafür, wie wir bereits lasen: fröhliche Demut.

Viertens: Ein in gewerkschaftlichen Zusammenhängen gefangener Freund äußerte auf die Frage zum Konflikt, um die Auslagerung der Service-Sparte bei der Telekom: “Gewerkschaften können nicht scheitern!” Ein Befund, der nahelegt, dass Gewerkschaften zwar gedemütigt werden, aber dies in jeder Hinsicht dementieren würden. Für die Demutsforschung sind die Gewerkschaften völlig ungeeignete Probanten.

Fünftens: Professor Stephan A. Jansen, der Gründungspräsident und Geschäftsführer der Zeppelin Universität in Friedrichshafen forderte in einem Beitrag für die Financial Times Deutschland vom 16. November 2004 unter den Stichworten Mut und Demut: “Manager sind Agenten der Wahrscheinlichkeiten. Ihre Funktion: Unwahrscheinliches wahrscheinlich zu machen und zu realisieren.(…) Das erzwingt eine für die erfolgsgewöhnte Betriebswirtschaftslehre noch unübliche Auseinandersetzung mit der üblicheren Praxis des Scheiterns.”

Professor Stephan A. Jansen hat übrigens im neuen brand eins ein interessantes Interview zum Thema “Programmierte Paranoia” gegeben. Seine Aussagen in diesem Interview schlagen in die gleiche Kerbe, was die Beherrschbarkeit komplexer Strukturen betrifft. Für einen zukünftig zu etablierende Lehrstuhl der Demutsforschung in Deutschland sind Prof. Stephan A. Jansen und Bazon Brock, mit seiner Theorie der Vollendung durch Scheitern, ganz heiße Kandidaten. Auch ich würde da gewisse Ansprüche anmelden.

Eine Beobachtung der letzten Wochen kann ich noch nicht ganz einordnen. Ich vermute es handelt sich dabei ebenfalls um einen ernstzunehmenden Trend, der vielleicht auch mit der Renaissance des Begriffs Demut zu tun hat.

Kurz nachdem die ersten Dopingfälle bei der diesjährigen Tour de France bekannt wurden, wollte ich Boule-Kugeln kaufen. In allen einschlägigen Geschäften waren diese jedoch ausverkauft. Mutmaßlicherweise hatte sich eine nicht unerhebliche Zahl meiner Zeitgenossen dazu entschlossen, statt einem breit angelegten Drogenexperiment von Pedaltretern im Fernsehn beizuwohnen, selbst in den Leistungssport einzusteigen. Boule steht nicht im Verdacht, dass durch die Einnahme verbotener Substanzen, Leistungssteigerungen zu erwarten wären. Im Gegenteil: Beim Boule-Spiel sollte man mit buddistischer Gelassenheit und Demut den Dingen ihren Lauf lassen. Am besten spielt sich Boule immer noch mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Glas Rotwein in der Hinterhand. Gibt es ein besseres Symbol für die Wiederentdeckung des menschlichen Maßes im Leistungssport?


Bildnachweis: Das Foto stammt von BildBlog.de. Lizenzbedingungen

Freitag, 27. Juli 2007

Thesen und Tatsachen II - An die Wand geworfen


Bei der Beschäftigung mit der zweiten These des Projekts rethinking business dachte ich an jene Werbung für die Gelben Seiten, in der es heißt: “Warum fragen sie nicht jemanden, der sich damit auskennt?” Den Thesen hätte das gut getan.

Nachdem wir schon bei der ersten These feststellen konnten, dass die Autoren von Wirtschaft sprachen, wir aber nicht wußten, was sie mit Wirtschaft meinten, setzt sich das bei der zweiten These fort. Beim Nachdenken über diese Thesen, geht es mir ein wenig wie der Königstochter in dem Märchen Der Froschkönig, die beim Spielen im Wald Dinge findet, die sie gar nicht sucht.

These # 02
“Der freie Austausch von Wissen und Kreativität sind die Grundlagen des zukünftigen Wohlstands. Die Wirtschaft tut sich mit beidem schwer.”

Aha, die Wirtschaft tut sich schwer. Das wissen wir, das tut sie meistens – bei Arbeitsplätzen, bei Ausbildungsplätzen, bei Zukunftsperspektiven, bei Antworten auf den demografischen Wandel und bei so mancherlei. Wer aber ist die Wirtschaft? Die Wirtschaft, das ist in diesem Zusammenhang so unspezifisch, wie die Politik, die Kultur, die Wissenschaft, die Findlingseigentümer oder die Hundebesitzer. In ungezählten Politikerstatements wird an solche ungreifbare Subjekte appelliert – an die Hundbesitzer zuletzt, als es darum ging eine Maulkorbpflicht für aggressive Hundrassen zu stoppen. Diese Appelle zeigen nie irgendeine Wirkung, außer einer aufschiebenden. Ersetzte man Wirtschaft durch Unternehmen, dann könnte man darüber vielleicht noch sinnvoll reden. Man hätte sich dann diese These aber auch sparen können, da in These 7 diejenigen Unternehmen als nicht zukunftsfähig erklärt werden, die sich abschotten.

Die These möchte, dass wir darüber diskutieren, ob der “freie Austausch von Wissen und Kreativität (...) die Grundlagen des zukünftigen Wohlstands sind”. Ich kann mir vorstellen, wie ein Austausch von Wissen funktionieren könnte – schließlich bin ich lange Jahre in die Schule gegangen und ein wenig Wissen ist, durch den Einfluß dieser Institution, auch bei mir angekommen. Aber wie funktioniert der Austausch von Kreativität? Nach einer gängigen Definition hängt Kreativität “von Begabungen, Motivationen und Persönlichkeitseigenschaften ab”. Wie tauscht man die Eigenschaften einer Persönlichkeit? Indem man, wie es in einigen schriftlosen Kulturen üblich war, die Hirne der Verstorbenen ißt? Oder funktioniert es, wie in dem Science Fiction Klassiker Invasion der Körperfresser? Oder kann die, in These 11 erwähnte, Bionic Society helfen?

In der letzten Ausgabe der Zeit (vom 26. Juli 2007) las ich mit Vergnügen den Beitrag von Josef Joffe über das Phänomen, dass Power-Point Präsentationen den Geist beschädigen (“An die Wand geworfen” auf Seite 42). Er zitiert dort Edward E. Tuftes Buch The Cognitive Style of PowerPoint mit den Worten: “Bullet outlines can make us stupid.” Die Merkmale der Sprache in PowerPoint-Präsentationen sind die Redundanz (Wiederholung) und das Generische – der Allgemeinplatz. Es wird gesprochen ohne zu denken. “Wir verdummen uns selber,” so Joffe, “wenn wir nichts mehr sagen, sondern nur noch reden.” Die “stumpfe Sprache stumpft auch das Gehirn ab – des Redners wie des Zuhörers.” “Und deshalb dräut der Untergang des Abendlandes, dieser wunderbaren Kultur, deren festes Fundament der klare Gedanke, das rigorose Räsonnieren, die präzise Sprache waren.” So schließt Josef Joffe.

Und ich – ich würde meinen, dass Unternehmen, die sich mit Zukunftsforschung beschäftigen, wie z-punkt - The Foresight Company, die Sprache der Zukunft vielleicht vorwegnehmen. Das hat seinen Preis. Die Probleme der Gegenwart bleiben ungelöst, da sie in einer Sprache formuliert werden, in der man nicht sinnvoll antworten kann. Statt unbedachte Bullet Points zu produzieren, wäre es sinnvoller intelligente Fragen zu stellen. Nach Ludwig Wittgenstein ist “der Sinn einer Frage (…) die Methode ihrer Beantwortung. Sage mir wie du suchst, und ich werde dir sagen, was du suchst.” Ich würde sagen, The Foresight Company sucht noch nach der richtigen Formulierung für wichtige Zukunftsfragen. Der Verzicht auf PowerPoint eröffnet da eine zukunftsfähige und nachhaltige Perspektive.

In all dem Überfluß gibt es keinen Mangel an offenen Fragen: Wovon hängt der zukünftige Wohlstand ab? Geht es um unseren zukünftigen Wohlstand, oder um den Wohlstand aller Erdenbürger? Geht es um Wohlstand für einige, oder um Gerechtigkeit für alle? Ist auch der zukünftige Wohlstand Gegenstand von Verteilungskämpfen und Machtinteressen? Ist der freie Austausch von Wissen in der Sphäre der Wirtschaft nur ein romantischer Gedanke, wie der fromme Spruch “Don't be evil” von eBay? Tummeln sich im Web 2.0 nur gute Menschen oder, neben der Abmahnindustrie, auch jede Menge anderer Betrüger? Geht es um die Kontrolle der Wertschöpfung, wie das Beispiel iPod zeigt, oder darum, wie bei einem Pfadfindertreffen, alles brüderlich zu teilen? Ist Industriespionage vielleicht sogar der Kern einer neuen Kreativitätsindustrie, die die Basis für zukünftigen Wohlstand schafft?

Vielleicht bewegen wir uns jetzt endlich auf dem Terrain der ungelösten Menschheitsfragen. Aber vielleicht sind die Fragen jetzt auch nur so gestellt, dass es darauf sinnvolle Antworten geben kann. Darauf kann ich nur warten.

Am Ende fällt mir noch einmal das Märchen vom Froschkönig ein. In diesem Märchen mußte man nur eine häßliche Kröte an die Wand werfen, damit sie sich in einen schönen Prinzen verwandelte. Den konnte man sogar in echt heiraten, und war glücklich bis ans Ende aller Tage. Das war (Originaltext) “in den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat.” In der Sprache der Bullet Points werden statt Kröten meist Märchen an die Wand geworfen, die werden dadurch nicht schöner und das Wünschen hilft nicht mehr.


Bildnachweis: Lizenzbedingungen der Abbildung der Königstochter.

Mittwoch, 25. Juli 2007

Thesen und Tatsachen I - Wer hat's erfunden?


Im Beitrag “Wortbesetzung statt Hausbesetzung” hatte ich die fünfzehn Thesen des Projekts rethinking business vorgestellt. Die nächsten Beiträge werden sich diese Thesen einzeln vornehmen. Ich beginne heute ganz vorne – mit These 01. Nebenbei wird ein iPod auseinander genommen und man erfährt, wo das meiste Geld landet, das man für dieses Gerät auf den Tisch legt.

Vorausschicken möchte ich: Es gab zwei Kommentare zu den Thesen. Der erste Kommentar fragte “sollen Märkte wirklich Gespräche sein?” Der zweite Kommentar stellt einen Widerspruch in den dort aufgestellten Behauptungen fest. Auf beide Kommentare möchte ich zunächst antworten.

Dem Kommentar von Sebastian, der bemerkte, dass die Thesen 3 und 10 nicht zu der Aussage in These 4 passen, kann ich nur zustimmen. Die Frage von Christophe, “sollen Märkte wirklich Gespräche sein”, möchte ich mit dem Hinweis auf das Cluetrain Manifest beantworten. Die Behauptung "Märkte sind Gespräche" ist die erste These dieses Manifests, das 1999 veröffentlicht wurde. Das Cluetrain Manifest hat einige Zeit für Wirbel in der Werbe- und Marketingszene gesorgt. Kurz zusammengefasst ist seine Aussage, dass die klassischen Methoden des Marketings ausgedient haben. Das Internet bringt die Menschen zusammen und fördert den ehrlichen und offenen Dialog. "Unternehmen, die nicht zu einer 'Community' des Austausches gehören, werden sterben."

Wie wir sehen, sind Thesen die eine Seite der Medaille - nämlich Behauptungen über die Wirklichkeit, die noch bewiesen werden müssen. Die andere Seite ist, wie diese Thesen ihre Tauglichkeit in der Wirklichkeit beweisen. Acht Jahre nach der Veröffentlichung des Cluetrain Manifests sind die meisten Unternehmen noch quicklebendig. Aber: Die Hoffnungen und Ängste gegenüber der Entwicklung, für die Web 2.0 als Synonym steht, sind die Fortsetzung von Cluetrain unter erweiterten technischen Möglichkeiten. Die einen freuen sich auf das Ende der großen Medienkonzerne durch Musiktauschbörsen und journalistische Blogs. Die Medienkonzerne wiederum arbeiten an Strategien auch diesen Hype für ihre Zwecke auszunutzen. Wie das ausgeht, ist schwer zu sagen. Sagen kann man aber, dass das Cluetrain Manifest eine richtige Tendenz beschrieben hat – allerdings mit zu optimistischen Schlussfolgerungen.

Thesen sind Behauptungen, die sich an der Wirklichkeit messen lassen müssen. Schauen wir also welche Wirklichkeit die erste These des Projekts rethinking business beschreibt, und ob diese These die Wirklichkeit plausibel erklärt.

These 01
“Es gibt keine globale Wirtschaft. Regionen sind die ökonomischen Machtzentren und Erfolge erzielt man nur auf lokalen Märkten.”

Was wird hier unter Wirtschaft verstanden? Ist es der Kapital- und Geldmarkt, der weltweit vernetzt, an jedem Tag Billionen von US-Dollar rund um den Globus pumpt, der nicht global ist? Sind es die Investmentbanker in London, New York und Singapur, die Megadeals zwischen australischen Minenunternehmen und indischen Stahlwerken einfädeln, die nicht global sind? Wie ich gerade lese, belastet die Angst vor einer Ausweitung der US-Immobilienkrise die Aktienmärkte in Europa. Warum, wenn Wirtschaft nicht global ist?

Erzielt man Erfolge wirklich nur auf lokalen Märkten? Wird Porsche nur in Schwaben verkauft und Coca Cola nur in Atlanta? Kommen unsere Fernseher noch immer von Grundig, oder sitzen wir nicht längst vor Sony, Panasonic und Sharp? Tragen wir alle Trigema, weil wir Herrn Grupp so nett finden und es außerdem keine Textilien aus anderen Ländern bei uns zu kaufen gibt?

Ein kleines Körnchen nachvollziehbarer Wahrheit steckt allerdings in dieser Behauptung. Globale Marketingstrategien sind oft gescheitert. Erfolg haben in der Regel Unternehmen, die ihre Marketingstrategien an die regionalen Besonderheiten anpassen – an die Kultur, die Wertvorstellungen und die Sprache derjenigen, die die Produkte kaufen sollen. Diese Märkte sind nicht lokal, sie sind regional oder national.

Die Geschichte von Steve, den drei ”i's” und dem big business
Um den Leser nicht länger zu langweilen, möchte ich eine kleine Geschichte erzählen, auf die ich in der New York Times vom 28.6.2007 gestoßen bin. Sie handelt von meinem Lieblingsunternehmen, der Apple Inc., mit Sitz in Cupertino. Es geht dabei um ein Produkt, das wir alle kennen: Den iPod.

Unter der Überschrift "An iPod Has Global Value. Ask the (Many) Countries That Make It” berichtet der Autor über eine Studie des Personal Computing Industry Centers, die der Frage nachging “Who Captures Value in a Global Innovation System? The case of Apple's iPod”. Untersucht wurde die globale Lieferkette eines 30 GB iPod der 5. Generation.

Erfunden hat den iPod ein Mann namens Steve Jobs. Das ist der Mann, der vor vielen Jahren den Personal Computer erfunden hat. Manche meinen, das sei ein Mann mit dem Vornamen Bill gewesen, aber das stimmt nicht. Nach all den Jahren ohne neue Erfindung, war es Steve etwas langweilig und so erfand er erst den iMac, dann den iPod und dann iTunes. Das "i" steht für "I made it", weil Steve auch etwas eitel ist. Steve ist aber auch clever. Deshalb überlegte er, wie er die drei "i"'s unter einen Hut bekommt. Aus dem iMac machte er das stationäre Multimediacenter für Musik und Film. Aus dem iPod machte er die mobile Abspielstation und aus iTunes, den Laden, in dem man die ganze Musik und die Filme kaufen kann. Da Ideen haben schon viel Arbeit ist, wollte Steve nicht auch noch alle diese tollen Geräte selbst zusammenschrauben. Also suchte er sich Leute, die das für ihn machen wollten.

Steves iPod kostet in den USA $299,-. Das kleine Wunderding besteht aus etwas mehr als vierhundert Einzelteilen. Für diesen ganzen Kleinkram suchte er sich auf der ganzen Welt Firmen, die ihm seine Erfindung zusammenbauen sollten. Die zehn teuersten Einzelteile und Leistungen die Steve weltweit einkauft sind: die Festplatte (Hersteller Toshiba/Japan), das Display (Toshiba-Matsushita/Japan), der Multimediaprozessor (Broadcom/USA), die CPU (PortalPlayer/USA), Montage und Test (Inventec/Taiwan), Aku (unbekannt), Bildschirmtreiber (Renesas/Japan), SDRAM Memory (Samsung/Korea) und zwei weitere Komponenten, deren Hersteller uns unbekannt sind. An der Spitze seiner Zulieferern stehen Unternehmen, die ihren Sitz in Japan haben, aber teilweise in China produzieren lassen. Der Wert dieser zehn Komponenten, die Steve in seinen iPod einbauen läßt – in Fabrikpreisen gerechnet – beträgt $123,12. Die restlichen rund 390 Komponenten haben einen geschätzen Wert von $21.28.

Dafür, dass Leute seine Geräte in die Läden in den USA transportieren und dort verkauften, zahlt Steve rund $75,-. Bei einem Verkaufspreis von $299,- hat Steve $80,- in seinem Säckel, ohne viel zu tun. Steves Wertschöpfungsanteil ist höher als der Preis jeder einzelnen Komponente. Das nennt man in Amerika big business. Und das ist ein gutes Geschäft. Für Amerika ist es auch ein gutes Geschäft, da der Anteil der Wertschöpfung, der dort bleibt, mit $163,- sehr hoch ist. Japans Anteil ist $26,- und Korea muss mit $1,- zufrieden sein.

Hier endet die Geschichte von Steve und den drei “i”'s. Steve Jobs ist der Gründer und Chef von Apple. Apple produziert den iPod mit einer ausgefeilten Lieferkette von globaler Dimension. Wer profitiert von der globalen Vernetzung von Zulieferen und einer Logistik, die dafür sorgt, dass jedes Teil rechtzeitig am richtigen Ort ist? Die Schlussfolgerung der Studie ist sehr einsichtig und lautet in der deutschen Übersetzung wie folgt:

”Was können wir nach dieser Analyse darüber sagen, wer den größten Gewinn aus Innovationen zieht? Zuerst: Apple ist der große Gewinner – eine amerikanisches Unternehmen, mit vorwiegend amerikanischen Beschäftigten und Aktionären.”

Soviel zu der These “Es gibt keine globale Wirtschaft”. Allerdings, und das zeigt wie komplex die Fragestellung ist, stützt das Beispiel iPod die These 03. Andere Meinungen oder Ergänzungen sind herzlich willkommen.

Quellen: Die Studie kann hier als PDF heruntergeladen werden. Auf die Spur dieser Studie gebracht, hat mich der Beitrag von steffenh “Der Globale iPod”.
Bildnachweis: Die Rechte für die Abbildung des iPods liegen bei Apple Inc. (Lizenzbedingungen).

Montag, 23. Juli 2007

Das Flache und die Fläche


Gerade komme ich aus der Schweiz zurück. Ein Ziel meiner Reise bestand darin, das Geheimnis des Märitsalats endgültig zu lüften. Auf der Fahrt über die Schweizer Autobahnen kamen mir allerdings ganz andere Dinge in den Sinn.

Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen reduzieren nicht nur den Ausstoß schädlicher Klimakillergase, sie führen beim Fahrer auch zu einer meditativen Haltung, die den Ausstoß an radikalen gedanklichen Abschweifungen ganz erheblich erhöht. Andere gehen dazu – wie mir berichtet wurde – auf die Toilette. Von den vielen Gedanken, die ich so dachte, während ich an Pratteln vorbei fuhr und die Ausfahrten Sissach, Biberist, Aarwangen, Zollikofen, Wünnewil und Bulle hinter mir ließ, sind nicht alle erwähnenswert. Einige seien aber aus dramaturgischen Gründen aufgeführt.

So dachte ich kurz an einen ehemaligen Unternehmenskommunikator, dem vor einigen Monaten fristlos gekündigt wurde und der jetzt bei einem neuen Arbeitgeber untergekommen ist. Ich dachte über die Vor- und Nachteile von Sechs-Gang-Getrieben nach. Dann überlegte ich, ob es von Vorteil ist, wenn Pornodarstellerinnen eine solide Grundausbildung in Gymnastik vorweisen können. Wie immer, wenn ich durch die Schweiz fahre, beschäftigte mich die Frage, wie die Schweizer ihre Weiden so extrem sauber halten und wie sie dieses unvergleichliche Grün hinkriegen. Ist es die reine Gebirgsluft, in der alle Farben einen Tick reiner erscheinen, oder ist es Gentechnik von Monsanto? Mit 120 auf der Autobahn hatte ich viel Muße nachzudenken und so manche offene Frage begleitete mich ein kleines Stück weit.

Kommt man vom flachen Land ins Gebirge, dann ist das – schon für sich genommen – sehr anregend. Plötzlich wird aus dem gewohnt flachen Horizont eine sich ständig verändernde Linie, die in der oberen Hälfte des Blickfeldes herumtanzt. Für Bewohner der Ebene ist das ein sehr ungewohnter Reiz, der einiges an Aufmerksamkeit beansprucht. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Schweizer Autobahnen fördert die Möglichkeit, diese neue Dimension der Landschaft wahrzunehmen und gleichzeitig offenen Fragen gedanklich nachzugehen.

Zwischen Biberist und Aarwangen überlegte ich, wie viele Einwohner hat die Schweiz? Von der Autobahn sieht die Schweiz nicht nur sehr sauber sondern auch sehr klein aus – und manchmal auch dünn besiedelt. Wie groß ist die Schweiz eigentlich? Hat die Schweiz mehr Einwohner pro Quadratkilometer als beispielsweise Finnland oder Litauen?

Zwischen Aarwangen und Zollikofen beschloss ich diesen Fragen nach meiner Rückkehr nachzugehen. Die Strecke zwischen Zollikofen und Wünnewil – und der ganze Rest – brachte wenig, was der Erwähnung wert wäre. Ich überlegte noch, weshalb Gewitter in den Bergen extremer sind, als in den Ebenen. Aber das ist eine Frage, die ich nicht weiter verfolgen möchte.

Meine erste Erkenntnis aus dieser Autobahnfahrt ist: Als Bewohner der Ebene kommt man gar nicht dazu, sich mit den Fragen zu beschäftigen, die sich Bergmenschen mitunter stellen sollten. Umgekehrt ist das wahrscheinlich genauso. Der meditative Aspekt von Autobahnfahrten unter dem Verdikt von Geschwindigkeitsbegrenzungen, führt zu einer Entgrenzung des Bewusstseins und eröffnet radikal neue Sichtweisen. Geschwindigkeitsbegrenzungen wirken wie Drogen, aber sie sind nicht nur legal – ihre Anwendung ist sogar erwünscht und frei von Nebenwirkungen.

Die zweite Erkenntnis stellte sich nach meiner Rückkehr ein. Die Fläche der Schweiz wird überall mit 41.285 Quadratkilometern angegeben. Aber ist das eine flachgerechnete Schweiz? Oder ist in dieser Fläche, die sich aufbauschende Topographie mit eingerechnet (siehe meinen Beitrag zu Bern)? Schließlich fuhr ich auf meinem Weg durch die Schweiz ständig an schräg stehenden Flächen entlang, die man umgangssprachlich als Berge bezeichnet. Mit anderen Worten: Wird bei dieser Flächenangabe das Matterhorn flachgelegt oder zählt die ganze Erhebung, inklusive der ungezählten Flächen, die ein aufstrebendes Matterhorn hervorbringt?

Der Unterschied wäre schon beträchtlich: Ein Quadrat mit einer Kantenlänge von einem Kilometer hat eine Fläche von einem Quadratkilo- meter. Ein als Pyramide gedachtes Matterhorn mit einer Grundfläche von einem Quadratkilometer und einer Höhe von 1000 Metern bringt es immerhin auf eine Fläche von 2,24 Quadratkilometern. Dabei sind die Grate und Schluchten, Überhänge und Abrisse, Klammen und Tobel, Kamine und Schroffen noch nicht mit eingerechnet.

Mein “Meyers Neuer Weltatlas” aus dem Jahr 2002 gibt keine Auskunft darüber, wie die offiziell ausgewiesenen Flächen der Länder berechnet werden. Nach den Daten im Fischer Weltalmanach steht die Schweiz mit ihren 41.285 Quadratkilometern auf Platz 132 in der Weltrangliste der durch Landesgrenzen eingezäunten Flächen. Auf Platz eins liegt übrigens mit 17.075.200 Quadratkilometern Russland.

Werden Länder wie Nepal, Tibet, Österreich, Lichtenstein und die Schweiz flachgerechnet, dann würden diese Länder weit unter Wert verkauft? Die Niederlande, Bangladesh, Tuvalu und Australien würden, was die Fläche ihres Territoriums betrifft, ziemlich bevorzugt. Gerade in Bezug auf die Niederländer würde mich das sehr ärgern, da diese auch auf Schweizer Autobahnen das Nachdenken nachhaltig unterbrechen, indem sie mit ihren Wohnwagen an Steigungen schlapp machen. Wir Deutschen hingegen hätten mit unserem Alpenanteil und unseren schönen Mittelgebirgen noch Chancen vom 62. Platz um einiges nach vorne zu rücken.

Reduziert man die Fläche auf das Flache, dann werden die erforderlichen Berechnungen natürlich sehr einfach. Allerdings lehren und lernen wir in den Schulen und Universitäten dann auch seit Generationen ziemlichen Schwachsinn, indem wir von einer flachgerechneten Schweiz ausgehen und dann glauben die Schweiz sei kleiner als die Niederlande.

In der Tat tun die Berechner aller Landesflächen noch immer so, als sei die Erde eine Scheibe und alles Erhabene wird flachgeklopft. Sie ignorieren aus Bequemlichkeit die Stereometrie und praktizieren weiter ihre bequeme und einfach zu rechnende Planimetrie. Galileo Galileis Credo der modernen Naturwissenschaft “Messen was meßbar ist, meßbar machen, was nicht meßbar ist” ist bei den Plattmachern in den Katasterämtern, den Vermessungsbefugten in den Landes- und Bundesvermessungsämtern, den Raumordnern und Flurbereinigern offensichtlich noch nicht angekommen.

Den Schweizern ist die Frage nach dem Flachen und der Fläche auch erst kürzlich eingefallen. Sie haben für ein Bergvolk, das außerdem noch für Präzision steht, dazu ziemlich lange gebraucht. Das Bundesamt für Landestopografie der Schweiz – kurz swisstopo genannt – kartographiert seit einigen Jahren das eidgenössische Hoheitsgebiet mit Luftbildkameras und modernen Hochleistungscomputern neu. swisstopo hat es immerhin schon geschafft die Fläche der Schweiz um 5.600 Quadratkilometer zu vergrößern. Und das ohne die immensen Kosten einer Wiedervereinigung – mit wem auch immer. Angestrebt wird eine Verdoppelung der Fläche auf rund 80.000 Quadratkilometer.

Damit könnten die Schweizer endlich im Konzert der ganz Großen mitspielen und würden nicht immer nur als kleines Land des großen Geldes diffamiert. Sie wären dann wirklich etwas dünner besiedelt und die Maßzahl, des in der Schweiz angelegten Geldes pro Quadratkilometer, würde sich halbieren. Gute Aussichten also für die Schweiz.

Übrigens: Der Märitsalat enthält tatsächlich im wesentlichen das Grünzeug, das gerade auf dem Markt angeboten wird. Märitsalat ist Marktsalat – natürlich frisch.

Donnerstag, 19. Juli 2007

Wortbesetzung statt Hausbesetzung


Wie kommt man in die Medien? Dafür gibt es riskante Strategien - und weniger riskante. Man kann sich einen Bart wachsen lassen, und sich dann häufiger im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan herumtreiben. Bald ist man in den Medien. Garantiert. Als aktiver Geiselnehmer geht es natürlich schneller. Oder auch als erfolgreicher Brandstifter. Dagobert hat es als Erpresser zu einer nationalen Berühmtheit gebracht. Als einfacher Ladendieb hat man dagegen wenig Chancen. Vor einigen Jahren konnte man als Hausbesetzer noch eine gewisse lokale Berühmtheit erlangen. Heute empfiehlt sich Wortbesetzung.

Meine Agentur hat sich vor einigen Monaten dazu etwas einfallen lassen. Sie klebte an das, was sie macht, ein neues Etikett: Branded Publishing. Wir haben dabei auch ein wenig Wortdesign betrieben, weil wir Brand und Publishing zusmmengeschweißt haben. Design ist manchmal ein wenig banal. Trotzdem ist das ein sehr beliebter Trick bei uns Werbern, der allerdings nicht immer funktioniert. Hier hat es funktioniert. Google liefert bei der Suche nach Branded Publishing bei den ersten zehn Einträgen, sechsmal einen Bezug zu meiner Agentur. Das ist schon ein Erfolg.

Allerdings weiß ich nicht, wie oft nach diesem Begriff gesucht wird. Vielleicht muss ich da mal die Jungs aus unserer IT-Abteilung fragen. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Wenn man eine hohe Trefferquote hat, bei Begriffen die keiner sucht, dann gilt die schöne Formulierung von Friedrich K. Waechter: “Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein!”

Das Web 2.0 schafft es, zwei sich ausschließende Existenzweisen zusammenzubringen. Die des Nomaden und die des Seßhaften. Im World-Wide-Web gibt einerseits die seßhaften Nomaden, andererseits die nomadisiernden Seßhaften. Zwischen beiden Typen gibt es keinen bemerkenswerten Unterschied. Ich beispielsweise bin ständig auf der Suche, ohne mich zu bewegen. Ich bin hier, ich bin dort, aber nie bin ich fort. Ich sitze vor meinem Rechner und durchstreife die Weiten des bekannten Universums. Zwischendurch hänge ich die Wäsche auf.

Bei diesen Streifzügen bemerkte ich, dass bei der Suche nach Informationen zum Thema Projektwirtschaft eine mir bekannte Website in den Trefferlisten auftauchte. Warum ich nach diesem Begriff suchte, weiß ich nicht mehr. Als nomadisierender Seßhafter, oder auch als seßhafter Nomade, weiß man nicht immer so genau, was man sucht. Jedenfalls hatte es mein Freund Klaus Burmeister mit seiner Firma z-punkt in die Top-Ten der Google-Treffer zum Suchbegriff Projektwirtschaft geschafft.

Mit dem Begriff Projektwirtschaft ist bei z-punkt ein Projekt verknüpft, dass ich inhaltlich interessant finde. Gemeinsam mit der Forschungsabteilung der Deutschen Bank geht es um die Zukunft des Standorts Deutschland. Das Projekt heißt so, wie ein Projekt heute heißen muss: rethinking business – und hat, wie es sich gehört, einen Blog. Die 15 Thesen dieses Projekts seien hier mit dem Kürzel fyi zur Kenntnis gegeben. Man mag sie lesen, oder auch nicht. Ich finde die Thesen interessant, und werde sie bei passender Gelegenheit aufgreifen.


These # 01
Es gibt keine globale Wirtschaft. Regionen sind die ökonomischen Machtzentren und Erfolge erzielt man nur auf lokalen Märkten.

These # 02
Der freie Austausch von Wissen und Kreativität sind die Grundlagen des zukünftigen Wohlstands. Die Wirtschaft tut sich mit beidem schwer.

These # 03
Nur offene Gesellschaften sind kreativ. Die Demokratie ist ein vergessener Standortfaktor.

These # 04
Der ökonomische „Shift to Asia“ ist das Vorzeichen einer neuen Weltordnung. Europa braucht ein neues kulturelles Selbstverständnis und muss seine Rolle in der Welt neu definieren.

These # 05
Börsennotierte Unternehmen sind durch kurzfristige Kapitalinteressen blockiert. Der Mittelstand übernimmt eine Führungsposition bei der Sicherung langfristiger Zukunftschancen.

These # 06
Globale Unternehmen werden zu komplex und sind kaum mehr steuerbar. Sie müssen lernen, auf Selbstorganisation umzuschalten, Verantwortung zu delegieren, um dezentral handlungsfähig zu sein.

These # 07
Das hermetisch abgeschottete Unternehmen hat ausgedient. Wertschöpfungsnetze und Kooperationen werden zu Schlüsselfaktoren.

These # 08
Kern einer sich verändernden Wirtschaftsweise wird der projektwirtschaftliche Sektor sein, der von kreativen Wissensarbeitern und einem florierendem Unternehmertum getragen sein wird.

These # 09
Eine zukunftsfähige Gesellschaft benötigt Gestaltungsspielräume und einen erweiterten Innovationsbegriff, der in neuartigen Arenen die Interessen von Wissen, Wirtschaft, Staat und Gesellschaft austariert.

These # 10
Der Gegensatz von Ökonomie und Ökologie ist ein Relikt. Nur nachhaltige Zukunftsmärkte sichern das Überleben von Unternehmen und Gesellschaft.

These # 11
Das Paradigma der Informationsgesellschaft verblasst. Ein neues ist im Entstehen: Wir sind auf dem Weg zur „Bionic Society“.

These # 12
Die Eingriffstiefe konvergenter Technologien ermöglicht eine zweite Evolution. Das Menschenbild der Gesellschaften im Osten wie im Westen gerät hierzu in Konflikt. Gegen Fundamentalismus hilft nur ein neuer Wertekanon.

These # 13
Kunden werden zu anspruchsvollen Partnern. Vertrauen, Kommunikation und Interaktion bilden das Fundament eines neuen Social Commerce. Märkte sind Gespräche.

These # 14
Die Polarisierung der Gesellschaft spaltet und treibt die Suche nach einem neuen sozialen Konsens voran. Die neue Mitte ist der Akteur des Wandels.

These # 15
Innovation heißt Selbstreflexion und kultureller Wandel. Wir brauchen ein Gemeinwesen, das Innovationskultur lebt – und auch das Scheitern kultiviert.

Das war jetzt harter Tobak. Mit den 15 Thesen liefert z-punkt einen ersten “Aufschlag für die Debatte über die Zukunftsperspektiven des Wirtschaftsstandorts Deutschland in der globalisierten Welt und ein 'Manifest in Progress'”.

Am Ende sei noch daran erinnert, dass “Wortbesetzung” keine Erfindung von uns “Werbefuzzies” ist. Wir haben von der Politik gelernt. Die Worte Demokratischer Sozialismus waren lange und eindeutig von der SPD besetzt. Von Ostberlin, der Hauptstadt der DDR sprach nur die SED. Von Westberlin war nur in der Bundesrepublik Deutschland die Rede. Die DDR wurde hier lange nur als Sowjetische Besatzungszone in den Medien benannt. Es ist ähnlich, wie mit Voldemort bei Harry Potter: Am Anfang steht oft der Mut, sich mit Worten anzulegen.

PS: Das mit dem “Kultivieren des Scheiters” in der 15. These kann ich gut gebrauchen, für meine längere Abhandlung zur Demutsforschung in Deutschland. Danke, lieber Klaus.

Dienstag, 17. Juli 2007

Ungelöste Menschheitsfragen II


Vermutlich klagen wir auf so hohem Niveau – man könnte auch “nörgeln” dazu sagen – dass uns zu ungelösten Menschheitsfragen nicht viel einfällt. Vielleicht sollte ich Norweger dazu befragen. Ich habe mich deshalb selbst auf die Suche begeben, und bin auf kuriose Dinge gestoßen. Weitergebracht hat mich aber letzlich der einzige eingegangen Kommentar zu meinem Beitrag “Ungelöste Menschheitsfragen”.

Google AdWords weiß Rat auf solche Fragen und eBay bietet diese zum “Sofort-Kaufen!” an. Ich frage mich: Wer kauft denn Fragen? Ich hätte da noch einige und das könnte – vorausgesetzt es gäbe eine echte Nachfrage – ein florierendes Geschäftsmodell sein.

Auf dem Klappentext des Hörbuchs “Wenn Worte reden könnten”, des Künstlers Jochen Malmsheimer, habe ich folgende Sätze gefunden: “Als Künstler ist man, von wem auch immer, gehalten, den drängendsten Menschheitsfragen, nach dem "Wieso" und "Warum" etwa oder dem "Wann eigentlich?" unserer Existenz nachzugehen. Doch was soll man mit der Zeit zwischen Mittagsschlaf und den 18:00-Uhr-Nachrichten anfangen, wenn diese Fragen beantwortet sind?” Wenn Worte reden könnten, hätten wir darauf vielleicht längst schon eine Antwort gefunden. So aber driften wir nach dem Mittagsschlaf in ein Niemandsland.

Die Frage, was wir tun, wenn alle Menschheitsfragen gelöst sind, hätte das Potenzial, in eine Liste ungelöster Menschheitsfragen aufgenommen zu werden. Allerdings arbeitet Bazon Brock, Professor für Kunst und Ästhetik an der Universität Wuppertal, schon lange an einer möglichen Antwort. Seine Hypothese ist, dass die Vollendung des Werks – und damit Ruhm, Ehre und Beständigkeit – nur erlangt wird, indem die Protagonisten ganz am Ende am Scheitern arbeiten. Er nennt dies “Die Philosophie des Scheiterns als Form der Vollendung”. Sollte Brocks Hypothese richtig sein, wäre diese Frage gelöst und von der hypothetischen Liste der ungelösten Menschheitsfragen zu löschen. Wir hätten zwischen Mittagsschlaf und 18-Uhr-Nachrichten wieder jede Menge zu tun.

Erstaunlicherweise eröffnete der einzige Kommentar, der zu diesem wichtigen Thema eintraf, eine ganz neue Sichtweise. Sebastian schrieb: “Warum gibt es kein Katzenfutter mit Mausgeschmack?” Es gibt eine Website, die ähnlich blödsinnige Fragen auflistet: “Was sehen weiße Mäuse, wenn sie besoffen sind?” ist noch eine der Originellsten. Die Frage von Sebastian hat allerdings ein Potenzial, das leicht übersehen werden kann. Dieses Potenzial liegt in den Annahmen, die in der Frage stecken. Ich kenne keinen Menschen, der weiß wie rohe Mäuse schmecken. Bedauerlicherweise gibt es sicher mehr Menschen, die darüber Auskunft geben könnten, wie Katzenfutter schmeckt. Aber eben Niemanden, der die Geschmacksdifferenz zwischen frischem Katzenfutter und rohem Mausgeschmack überprüft hätte.

In Sebastians Frage steckt also eine Annahme, die sich nicht so leicht überprüfen läßt. Es steckt aber noch eine zweite Annahme darin, die viel grundsätzlicherer Natur ist. Wer sagt, dass Katzen Mäuse fressen, weil sie ihnen schmecken? Diese Frage hinter der Frage, führt uns in das weite Feld der Evolutionstheorie. Vielleicht würden Katzen viel lieber Kühe fressen, Schabrakentapire oder Krokodile. Hätten sie sich nörgelnd und mäkelnd, in den Jahrtausenden der Evolution dem widerlichen Genuß von Mausspeisen – oder auch Jungvögeln, Jungkaninchen, Ratten und Hamstern – widersetzt, dann gäbe es heute vermutlich keine Katzen mehr. Der Satz “survival of the fittest” läßt sich gut mit dem allseits verständlichen Satz übersetzen, "Aus der Not, eine Tugend machen”. Katzen sind – so behaupte ich – froh darüber, dass sie Haustiere sind, Katzenfutter bekommen, das nach Fisch schmeckt und Mäuse nur noch als Spielzeug interessant sind.

Vor einigen Tagen habe ich mich mit einigen Haustierexpertinnen über die Frage unterhalten, warum Katzen so gerne Fisch mögen. Alle waren der Meinung, dass dies eine der ungelösten Menschheitsfragen sein könnte. Katzen mögen Wasser nicht, sie wollen sich beim Schwimmen nicht naß machen – aber sie lieben Fisch. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Prionailurus viverrinus – die südostasiatische Fischkatze – den evolutionären Sprung, weg von den Mäusen und hin zu den Fischen geschafft hat. In Indien, wo diese Spezies lebt, ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, dass Katzenfutter mit Fischgeschmack flächendeckend verfüttert werden wird. Die Fischkatze hat, vor ungenannten Zeiten, ohne Hilfe zur Selbsthilfe, ihre Scheu vor Wasser überwunden, um endlich das zu fressen, was ihr schmeckt.

Dieser kurze Exkurs in die Evolutionstheorie und die Ernährungsgewohnheiten der Katzen – veranlaßt durch Sebastians Frage – führt uns direkt zu einer wirklichen ungelösten Menschheitsfrage. brand eins fragt in seiner letzten Ausgabe: “Zu viel! – Überleben im Überfluss”? Kurz und übersichtlich zusammengefasst bedeutet dies: Mangel führt dazu, dass man frißt was man bekommen kann. Überfluß dazu, dass man nicht mehr weiß, was man fressen soll. Wir haben bisher aus der Not eine Tugend gemacht. Mit der Not kommen uns die Tugenden abhanden. Wir stehen ratlos vor der Frage, wie gehen wir mit schmackhaftem Katzenfutter um. Wolf Lotter erklärt in brand eins:

“Der Abschied aus der jahrtausendelangen Mangelgesellschaft hat begonnen. Mit der Industrialisierung wurden Massen mobilisiert, die zusehens immer größere Mengen an Produkten für alle bereitstellen konnten. Das war der Anfang vom Ende des Mangels als zwangsläufigem Schatten der Menschheit. Doch der Mangel im Kopf ist geblieben, weil sich anderes noch nicht wirklich vorstellen lässt. Die Fragen lauten: Wie geht man mit Überfluß um? Wie begegnet man den Möglichkeiten, die die Vielfalt des Marktes bereitstellt? Was kommt eigentlich, wenn alle alles haben?"


Soviele ungelöste Fragen. Ob Götz W. Werner darauf eine Antwort geben kann?

Sonntag, 15. Juli 2007

Norweger nörgeln nicht


Norweger sind angenehme Zeitgenossen. Sie sehen aus wie x-beliebige Mitteleuropäer. Das hat eine fatale Konsequenz: Wir Deutschen sehen aus wie sie. Deshalb wird man überall mit einem herzlichen “Hey” begrüßt, und dann mit norwegischen Sätzen eingedeckt. Das ist sehr freundlich, dient aber nicht der problemlosen Verständigung.

Dabei sieht die geschriebene norwegische Sprache für Menschen deutscher Zunge recht vertraut aus. Übersieht man so seltsamen Vokale, wie das å, das œ und das ø, dann erschließen sich Worte wie “følgende” oder auch “fastlandforbindelse” relativ schnell. Auch der Hinweis: “Ferdig: desember 2007” sieht lustig aus, ist aber einfach zu verstehen (siehe Foto). Am Flughafen, der von Norwegern poetisch als “Lufthaven” bezeichnet wird, weist das Schild “Ankomst” problemlos den richtigen Weg. Sobald der Norweger allerdings spricht, versteht man kein Wort.

Vielleicht liegt es daran, dass die norwegische Sprache achtzehn Monophthonge und sieben Diphthonge kennt, das Deutsche aber nur fünfzehn Monophthonge und nur drei Diphthonge. Das wäre ja immerhin ein plausible Erklärung, für das seltsame Phänomen, dass man norwegische Texte einigermaßen lesen kann, aber die gesprochene Sprache trotzdem nicht versteht.

An dieser Stelle bedarf es einer kleinen Präzisierung. Wenn hier von Norwegern die Rede ist, dann handelt es sich streng genommen um die Bewohner der Lofoten. Diese werden in einem kleinen Buch über “Die Geschichte der Lofoten” Lofotinger genannt. Und hier im hohen Norden, so berichten einschlägige Nordlandkenner, ist man besonders freundlich und angenehm. Der Unterschied von normalen Norwegern zu Lofotingern ist ungefähr der, wie zwischen engstirnigenSchwaben und weltoffenen Kurpfälzern. In manchen Gegenden Schwabens muss man als Zugezogener mindesten über drei Generationen die Kehrwoche fehlerlos eingehalten haben, bis man einigermaßen als Einheimischer und Nachbar akzeptiert wird. Vorausgesetzt man ist Protestant. Die Kurpfälzer sehen das nicht so eng. Wenn überhaupt gefegt wird, dann diente dies traditionell eher der Kommunikation mit den Nachbarn. Die Gehwege werden dadurch nicht wesentlich sauberer.

Aber zurück zu den Sprach- und Verständnisproblemen von uns Mitteleuropäern in Norwegen. Dass nicht nur Monophthonge und Diphthonge für dieses Probleme verantwortlich sind, sondern eine grundlegende kulturelle Differenz behauptet werden kann, zeigt das folgende Beispiel einer komplett mißlungenen Kommunikation, die in Englisch geführt wurde.

Das englische to be in a hurry benutzt der Lofotinger in einer Art und Weise, die bei Mitteleuropäern sprachloses Erstaunen hervorruft. Dies mag geografische Gründe haben. Wir befanden uns schließlich auf den Lofoten, die bekanntlich ein erkleckliches Stückchen nördlich des Polarkreises liegen. Wir waren zu einem Zeitpunkt dort, an dem Sätze, wie “Komm laß uns fahren, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sind”, nicht gesagt werden können. Die Sonne scheint – wie es so schön in einem alten Lied der Arbeiterbewegung heißt – “ohn' Unterlaß”. Das dehnt die Zeitspanne, in der Dinge erledigt werden können, beträchtlich aus. Das scheint Wörtern wie “Eile” – oder dem Englische to be in a hurry – eine ganz andere Bedeutung zu geben.

Wir waren in dem schönen Ort Reine, etwa acht Kilometer nordlich von Å angekommen und saßen in der Gammelbua. Dies ist ein sehr vehement empfohlenes Restaurant mit Biergarten, wenn man den einschlägigen Reiseführern für Mitteleuropäer folgt. Erstaunlich schnell konnten wir unsere Bestellung für Kaltgetränke aufgeben. Es dauerte dann allerdings zwanzig Minuten bevor ein Mineralwasser und ein Bier vor uns standen. In der Zwischenzeit unterhielten uns andere Servicekräfte mit der Frage, ob wir etwas bestellen wollten. Wir verwiesen höflich auf den bereits ausgelösten Bestellvorgang. Als unsere Getränke geliefert wurden, fragten wir nach der Karte, da uns mittlerweile der Hunger zwickte. Nach weiteren zwanzig Minuten erschien unsere Servicekraft mit der Karte, sehr bemüht und beflissen mit dem Hinweis, dass nun nicht mehr die Mittagsgerichte geordert werden könnten, sondern die Abendkarte gelte. Wir konnten keinen Unterschied feststellen.

Gewarnt durch unsere bisherige Verweildauer, stellten wir die entscheidende Frage: “Geht das schnell, mit dem Essen?” Unsere Servicekraft antwortete darauf mit der Gegenfrage “Are you in a hurry?” Wir waren so perplex, dass wir nicht antworten konnten, sondern damit begannen unsere Situation grundsätzlich zu überdenken. In der Tat: Wir waren nicht in Eile. Wir waren etwas hungrig und nicht gewillt, weitere Minuten des Wartens mit Gesprächen zu füllen. Wir wollten, ohne große Eile, bald weiter, um das Ziel unseres Ausflugs zu erreichen.

Da wir, in tiefes Nachdenken versunken, keine schnelle Antwort auf die Frage fanden, wie wir mit der Gegenfrage der Servicekraft umgehen sollten, sagte die freundliche Servicekraft, sie wolle sich jetzt in der Küche erkundigen, ob es schnell ginge. Sprach's und verschwand. In den letzten fünfzehn Minuten, die wir in der Gammelbua zubrachten, ward sie nicht mehr gesehen.

Norweger – insbesondere aber Lofotinger – haben offenbar eine ganz eigene Vorstellung davon, was wann zu erledigen ist. Das Zeitempfinden unter dem Einfluß der Mitternachtssonne – aber auch während der Polarnacht – scheint stark von unserem Zeitempfinden abzuweichen. Dies wäre ein sehr ergiebiges Forschungsthema für die Chronopsychologie. Statt die Augenbewegungen von Rhesusaffen zu erforschen, könnten die Chronopsychologen auch einfach mal in Nordnorwegen ein Bier bestellen.

Generell kann man sagen, dass der Norweger stark auf Eigeninitiative setzt. In der Kneipe muss man Getränke und Speisen an der Theke bestellen. Man zahlt sofort, nimmt sein Getränk mit und sollte auf die Lieferung der bestellten Speisen nicht ohne weiteres vertrauen. Reklamiert man nach einer halben Stunde, dann wird auch geliefert.

Mit dem Thema Service, gehen Norweger sehr entspannt um. Norweger nörgeln nicht. Umgekehrt bedeutet das für mitteleuropäische Reisende in diesem Land, dass man sich nicht großartig um sie kümmert. Hätten wir am letzten Tag unseres Aufenthalts nicht selbst den Weg zur Rezeption unseres Ferienhütten-Vermieters gefunden, wir hätten ohne zu bezahlen abreisen können.

Die Fotos stammen vom Autor des Beitrags und stehen unter Creative Commons Licence

Samstag, 14. Juli 2007

Ungelöste Menschheitsfragen


Heute befand ich mich auf Einkaufstour in der City und wollte bei einem Buchhändler “Das Lexikon des Unwissens” erstehen. Der Buchhändler schaute ins Verzeichnis lieferbarer Bücher und wußte: Das Buch ist für Juli angekündigt, aber noch nicht ausgeliefert. Damit wußte auch ich mehr.

Für alle Unwissenden: Autoren dieses Buches sind Aleks Scholz und Kathrin Passig. Beide bloggen in www.riesenmaschine.de und versuchen mit diesem Buch mannigfaltige Wissenslücken aufzureißen. Kathrin Passig ist außerdem Preisträgerin des Ingeborg Bachmann Preises 2006. Die Berliner Literaturkritik schreibt über das Buch: “Die Landkarte des menschlichen Wissens weise erstaunlich viele weiße Flecken auf. Selbst auf Gebieten, auf denen dies nicht vermutet würde, gäbe es eine Fülle ungeklärter Fragen.”

Schade nur, dass es noch nicht ausgeliefert ist und ich mich ein weiteres Wochenende mit einer ungelösten Menschheitsfrage herumschlagen muss. Nicht dass ich mir vom “Lexikon des Unwissens” eine restlose, oder auch nur ansatzweise Klärung meiner Frage erwarten würde. Nein, aber es würde mir helfen, wenn meine Frage dort aufgenommen ist, und folglich keiner nix genaues darüber weiß.

Meine Frage mag zunächst marginal, subjektiv, uninteressant und bedeutungslos klingen. Da man aber, so weit ich weiß, nichts darüber weiß, kann man die Bedeutung einer möglichen Antwort für die Menschheit auch nicht abschätzen. Ich frage mich spätestens seit mir die Bommelgeschäfte in Marrakesh auffielen, warum Araber zu kleine Halbschuhe kaufen und dann die Fersen heruntertreten? Wüßte jemand darauf eine Antwort, so könnten wir diese Geschichte, und vielleicht auch noch einige andere, abhaken.

Zaudert also nicht entsprechende Kommentare und Lösungsvorschläge dem Navigationssystem des fliegenden Teppichs kundzutun. Vermutlich steigert ein passender, bequemer Schuh das Wohlbefinden im Hier und Jetzt, und senkt die Sehnsucht nach dem Paradies und den dort wartenden Jungfrauen.

Weitere ungelöste Menschheitsfragen sollten ganz ungeniert als Kommentar den Piloten des fliegenden Teppichs mitgeteilt werden. Wir werden uns darum kümmern.

Das verwendete Foto stammt vom Autor des Beitrags und steht unter Creative Commons Licence

Dienstag, 10. Juli 2007

“manager magazin” hebt ab


Erratische Blöcke, um mein letztes Thema als Überleitung zu nutzen, findet man auch bei der Lektüre der Wirtschaftspresse. Ein Findling kam mir bei der Lektüre der letzten Ausgabe des manager magazin unter die Augen. Erratisch ist dieser Artikel deshalb, weil er wenig Information enthält, dafür aber zu literarischen Höhenflügen ansetzt. Maurice Ravel sagte über sein Stück Bolero: “Schade nur, dass es überhaupt keine Musik enthält.” Ähnlich kann man über den Artikel Blockadepolitik von Klaus Boldt urteilen.

Worum geht es in diesem Artikel? In wenigen Sätzen kann der Informations- gehalt zusam- mengefasst werden: Um den neuen Haupt- stadt-Superflug- hafen in Berlin Schönefeld bauen zu dürfen, mußte das Land Berlin die Schließung der Flughäfen in Tegel und Tempelhof zusichern. Allerdings, so ein Rechtsgutachten, würde ein eingeschränkter Flugbetrieb in Tempelhof, den Planfeststellungsbeschluß zugunsten des Großflughafen Schönefeld nicht gefährden. Der Berliner Senat – mit Klaus Wowereit an der Spitze – hat einen Planfeststellungsbeschluß, aber keinen Plan, was aus Tempelhof werden soll. Der Unterhalt der Immobilie kostet das Land Berlin jährlich rund 15 Millionen Euro. Jetzt steht mit Ronald S. Lauder, dem Sohn von Estée Lauder, ein potenter Investor auf der Matte. Mister Lauder will 480 Millionen Dollar investieren, 1000 Arbeitsplätze schaffen und hat ein gutes Konzept. Dieses Konzept erfordert aber, dass in Tempelhof ein eingeschränkter Flugbetrieb stattfinden kann. Klaus Wowereit und der rot-rote Berliner Senat üben sich im Tricksen und Täuschen und wollen den Investor mit sanfter Ironie abschrecken. Die Pläne von Ronald S. klängen, so Wowereit, doch wie ein “Märchen ” vom “reichen Onkel aus Amerika”. Lauder läßt sich davon jedoch nicht entmutigen und so läuft die ganze Geschichte auf einen Showdown zu, der dem rot-roten Senat die Legitimation kosten könnte.

Soweit der Informationsgehalt und die Fakten. Klaus Boldt braucht dafür vier Druckseiten und das hat seinen Grund. Man findet in diesem Artikel Formulierungen, die man in einem Medium, wie dem manager magazin nicht erwartet.

Seinen Eindruck von Ronald S. Lauder beschreibt der Journalist wie folgt (bermerkenswerte Formulierungen sind kursiv hervorgehoben): “Lauder ... hat das seelenruhige Naturell des Diplomaten. Er vermeidet überflüssige Bewegungen, wie Gesten sie bisweilen notwendig machen, trägt eine Patek Philippe von 1912, und hat den etwas verhangenen Blick eines Herzogs, der die Vorteile höflicher Formalitäten zu schätzen weiß. Freundlichkeit klappt auf wie ein Regenschirm.” Auf Fragen antworte der verhangene Herzog mit “mehligem Lächeln”.

Man kann daraus schließen, dass Gesten bei Mister Lauder nicht vorkommen, und die Mimik weitgehend “verhangen” ist. Das erinnert an bestimmte Szenen aus den Sketchen von Mister Bean. Was allerdings ein “seelenruhiges Naturell” sein soll, kann ich nur ahnen. Seelenruhig, so erwartet man das Unvermeidliche oder, dieser Zustand stellt sich unvermittelt ein, wenn man in einer Extremsituation agieren soll. Mit einem ruhigen oder ausgeglichenen Naturell könnte ich etwas anfangen, aber warum hier die Seele bemühen wird, ist eine Frage, auf die der Autor die Antwort schuldig bleibt. Ein “mehliges Lächeln” hingegen ist ein Bild, das ich auch schon einmal irgendwo gesehen habe. War nicht Marlon Brando in dem Mafia-Epos Der Pate damit ausgestattet? Ob die Patek Philippe dazu passt? Vielleicht dann doch eher eine Rollex.

Wowereit hingegen und der ganzen politischen Mischpoke, die den Investor zu vergraulen trachtet, werden “persönliche Animositäten” unterstellt. So sei die Formulierung vom “reichen Onkel aus Amerika” eine Bemerkung, “mit der der Regierende die Pläne derb-kennerhaft ernüchterte und sozusagen dämonisch umwitterte, ja in linkspolitische Zweifel zog.” Wow, Wowereit – was geht da ab? Derb-kennerhaft ernüchtern und dämonisch umwittern? Das ist schon die hohe Kunst der Sabotage, bei der ein Leser wie ich ernüchtert aussteigt. Einige Zeilen später werden die politisch Handelnden auch noch in den “Ruch des völlig Verkrustet-Verfilzten” gerückt.

Was für mich als Leser der vier Druckseiten bleibt, ist der Eindruck, dass hier mehlig lächelnde Mafiabosse gegen die verkrustet-verfilzte Berliner Politikmafia antreten. Das Lächeln der Berliner Politiker würde ich mir als verbissen vorstellen. Dabei wäre mir ein Flughafen Tempelhof nur recht, da ich dann weiterhin Berlin-Mitte in zwei Stunden erreichen könnte. Linkspolitische Zweifel sind mir da vollkommen egal. Was außerdem bleibt ist, dass der Autor Klaus Boldt weit über das Ziel hinausschießt. Ein nüchterner Bericht über die Fakten hätte eine weitere Anzeigenseite frei gemacht. Stattdessen wird das Thema dramatisch so überhöht, dass mir am Ende alle Beteiligten so zuwider sind, dass ein rationales Urteil kaum noch möglich ist.

Lieber Klaus Boldt, in ihrem Blog würde ich so etwas vielleicht gerne lesen, aber nicht in einem Magazin, das ich für teures Geld abonniert habe.

Lieber Klaus Wowereit, schwulsein allein enthebt einen nicht auf Dauer den Schwulitäten der Tagespolitik. Weniger Event-Hascherei und mehr Substanz sei hier angeraten.

Lieber Ronald S. Lauder, bei mir kommt Ihr Stil an. Aber bei Interviews mit Top-Jornalisten sollten Sie sich einer lebhafteren Gestik und eines weniger verhangenen Blickes befleißigen. Vielleicht könnten Sie ihrem Lächeln auch ein wenig Süßstoff hinzufügen.

PS: Einige meiner treuesten Leser bemängelten den fehlenden Branchenbezug in meinen letzten Postings. Ich kann nicht ganz ausschließen, dass Findlinge in Freundesgärten zu selbstverliebt den Focus verengen, und die drängenden Probleme unserer Zeit unkommentiert bleiben. Deshalb der Themenwechsel. Lesermeinungen und Kommentare sind natürlich willkommen.

Quellen: Das verwendete Bild der Empfangshalle des Flughafens Tempelhof stammt aus Wikipedia. Informationen zum Copyright findet man hier.

Sonntag, 8. Juli 2007

Erratische Blöcke II


Unechte Findlinge sind wirklich nicht das Top-Thema der kommenden Woche. Der gerade erschienene Spiegel hat als Titelgeschichte “Der Preis der Angst”. Dabei geht es darum, wie der “Terrorismus den Rechtsstaat in Bedrängnis bringt.” Bei diesem Innenminister bedarf es keiner Terroristen, um die Bürgerrechte in Bedrängnis zu bringen. Soviel nur vorab. Findlinge, so habe ich jetzt herausgefunden, stellen jedoch ein weiteres unkalkulierbares Sicherheitsrisiko dar.

Der Besitzer des brasilianischen Findlings in Neu-Ulm hat sich inzwischen umfassend zu den Fragen, die sich aufgeworfen haben, geäußert. Mir liegt jetzt auch ein Foto des geheimnisvollen erratischen Neu-Ulmer Blocks vor. Ob all dies zur Aufklärung des Sachverhaltes dienen kann, wage ich zu bezweifeln.

Positiv zu vermelden ist die Kooperationsbereitschaft meines Freundes Bernhard. Dank seiner Stellungnahme wissen wir jetzt, wie der geheimnisvolle brasilianische Findling in Neu-Ulm heißt: Rosario. Wobei der Betreiber des neuen Neu-Ulmer Findling-Vergnügungsparks selbst anmerkt, dass Rosario der Name einer Stadt in Argentinien ist. Zur Aufklärung des Sachverhalts dient dies nicht. Im Gegenteil, es führt zu weiterem Fragen.

Brasilianer haben traditionell ein angespanntes Verhältnis zu ihren argentinischen Nachbarn. Ausserdem spricht man in Brasilien portugiesisch und in Argentinien spanisch. Warum sollten also portugiesisch sprechende Brasilianer ihre Findlinge nach einer argentinischen Stadt benennen?

Wir vermuten, dass Bernhards Findling unter falschem Namen eingereist ist und wir wissen noch immer nicht: Handelt es sich bei dem vermeindlichen Findling um Marmor, Gneis, Basalt oder Quarzit. Oder vielleicht nur um tristen Mergel oder profanen Sandstein. Wohlwollend einräumen möchte ich, dass der Wunsch nach einem Stein im eigenen Garten, oft mit einer gewissen Naivität, ob der möglichen Implikationen gepaart ist. Ganz gleich, ob selbst gekauf oder – wie im vorliegende Fall – geschenkt. Kaufe oder schenke ich Bananen, dann kann ich mir sicher sein, dass die Europäische Union ihre Finger drin hat, und alles genormt und legal vonstatten geht. Beim Kauf oder der Annahme von Findlingen gerate ich leicht in einen rechtsfreien Raum. Gerade als Neu-Ulmer, sollte ich mir schon überlegen in welches Fadenkreuz ich damit gerate.

Bernhard räumt inzwischen selbst ein, dass er bei der Annahme und Installation des geschenkten Findlings einige Fehler begangen hat. So zitiert er einen Fachmann, mit den Worten: “Die falsche Lagerung von Findlingen und anderen Steinen ist ein Grundübel heutiger Gartengestaltungen” Dies befindet www.derkleinegarten.de. “Steine dürfen nicht wie hingelegt aussehen. Findlinge und andere Irrgesteine lagern flach im Boden, wo etwa 50 - 60% der Steinoberfläche sichtbar ist.”

Irrgesteine – dieses Wort für Findlinge, Pseudo-Findlinge oder anderes “kleines Geschiebe”, finde ich nahezu exzeptionell. Bernhard räumt ein, dass bei Natursteinhändlern, solche Trümmer eben Findlinge heißen. Natursteineverkäufer scheinen sich nicht um Normen kümmern zu müssen. Konsumenten können da leicht in steiniges Gelände geraten. Sie wollen einen Findling, sie bekommen aber ein mäßig “kleines Geschiebe” aus Nachbars Vorgarten. Irrgestein für teures Geld.


Ein gewisser Regelungsbedarf liegt auf der Hand. Beispielsweise haben die Eltern von Nadine seit zwei Wochen einen jungen Dackel. Dieser junge Dackel heißt übrigens Jule. Als junger Dackel, ist die junge Dackeldame beim Verband für das Deutsche Hundewesen registriert. Nadines Eltern können damit sicher sein, dass in ihrem Garten kein “kleines Geschiebe” das Bein hebt. Als Dackelkonsument hat man damit eine gewisse Sicherheit. Den Liebhabern von Findlingen sei nahegelegt, dass sie zunächst auf nationaler Ebene einen Verband gründen und anschließend auf europäischer Ebene die Definition und Einhaltung von einheitlicher Normen anregen. Ein einheitliches internationales Findling-Register wäre dazu ein erster Schritt.

Nach meinem Kenntnisstand gibt es kein internationales Findling-Register, in dem man überprüfen könnte, ob ein Stein, die erforderliche Größe hat, und ob überhaupt die Möglichkeit besteht, dass er während einer Eiszeit nach Brasilien verbracht worden sein könnte. Für Findling-Freunde hätte dies einen großen Vorteil in Bezug auf Qualität, und Produkthaftung. Hinzu kommt, dass in Findlingen große Mengen von Flüssigkeiten versteckt werden könnten. “Alter Schwede” kann ich dazu nur sagen. Die Geschichte hat Sprengkraft. Findlinge, die in Neu-Ulmer Gärten schlafen, könnten bald schon explodieren und blühende Gärten in Trümmerfelder verwandeln.

Lieber Wolfgang Schäuble, auch da wartet noch Arbeit auf dich.

Quellen: Das verwendete Bild des Findlings stammt von meinem Freund Bernhard. Die weitere Verwendung in kommerziellen Zusammenhängen ohne Quellenangaben und Rücksprache würde ich erstmal ausschließen. Jules Foto steht unter der der hier angegebenen Creative Commons Licence

Donnerstag, 5. Juli 2007

Erratische Blöcke


Ein Findling ist nach der Definition in Wikipedia “ein heute meist einzeln liegender sehr großer Stein, der durch Gletscher während der Eiszeiten in seine heutige Lage verdriftet (transportiert und abgelegt) wurde. Die Grenze zwischen Findlingen und den kleineren Geschieben zieht man bei einem Volumen von einem Kubikmeter.” Man bezeichnet einen Findling auch als “erratischen Block”.

Den brasilianischen Findling im Garten meines Freundes in Neu-Ulm habe ich nicht gewogen und nicht gemessen. Ich bezweifle mittlerweile allerdings, dass es sich bei diesem Stein tatsächlich um einen Findling handelt. Wenn überhaupt, dann sieht er aus wie ein “kleines Geschiebe”. Ich glaube aber auch nicht, dass es in Brasilien überhaupt Findlinge oder “kleine Geschiebe” gibt. Wie soll denn eine Eiszeit diese Brocken aus der Antarktis in die Tropen transportiert haben? Mein lieber Bernhard, da hast Du mir einen schönen Bären aufgebunden! Findlinge, die sehen so aus, wie es auf dem Foto oben zu sehen ist. Der Bursche heißt übrigens “Alter Schwede” und liegt in Övelgönne.

Mag sein, dass du selbst Opfer eines groß angelegten Betrugs geworden bist und Dir ein Findling untergeschoben wurde, der gar keiner ist. Wahrscheinlich ist Findling-Betrug in Zeiten der Globalisierung eine weitverbreitete Masche international operierender Syndikate und steht im Zusammenhang mit Prostitution, Drogenhandel, Geldwäsche und Doping. Dein Pseudofindling stammt garantiert nicht aus Brasilien. Vielleicht ist er aus Pappmaschee und aus der Deko-Abteilung von Breuninger. Falls du es also selbst nicht weißt, solltest Du dich an der Aufklärung dieses Sachverhaltes beteiligen. Solange das nicht geklärt ist, hat die Sache eine erratische Dimension.

Das Wort “erratisch” gefällt mir übrigens so gut, dass ich mit dem Gedanken spiele meinen Blog in “Erratische Blöcke” (oder in “Erratischer Blog”) umzubenennen. Leserkommentare zu dieser Absicht sind mir sehr willkommen. “Erratisch”, das bedeutet übrigens, nach meinem dtv-Brockhaus-Taschenbuchlexikon aus dem Jahre 1985, “herumirrend”. Passt doch irgendwie, oder?

Dieser Artikel bezieht sich auf Sackgasse Superrelativismus.


Das Foto stammt aus Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence