Dienstag, 25. September 2007

Produktvergreisung


Wenn ich schon mal da bin, dachte ich mir, bleib ich noch ein Weilchen. "Ya que estas ahi!", wie meine halbargentinische Exfrau häufig zu sagen pflegte. Was auf Deutsch soviel heißt wie, "Wenn Du schon mal da bist, kannst Du auch abtrocknen!" Vor einigen Tagen ging es um Demut und Manufactum. Heute geht es um Manufactum, Apple und Demut.

Der folgender Text aus dem neusten Manufactum Katalog bleibt ohne einen bildhaften Hinweis durchaus rätselhaft: "Wer mit größeren Katastrophen - chipfressenden Kugelblitzen, einem auszufüllenden Formular oder kalifornischen Energieversorgungszu- ständen - rechnet, dem wird der Besitz dieses informa- tionsverarbeitenden Geräts eine herzerwärmende Beruhigung sein. (…) Werkzeuge wirken nicht nur auf das Werkstück ein, sondern auch auf den Handwerker und dessen Kunst."

Die Frage ist, worum handelt es sich. Ist es der "GÄNSEKIEL GESTUTZT", von bayrischen Gänsen stammend und in heißem Quarzsand "gehornt" für nur 4,90 Euro (Antwort A)? Oder ist es die "MECHANISCHE SCHREIBMASCHINE OLYMPIA SG 3N" für immerhin 550,- Euro (Antwort B)? Oder handelt es sich dabei um das "MANUFACTUM ATOMA NOTITZBUCH- UND METHODIKSYSTEM" mit einem Preis, der sich modular in die Höhe schraubt (Antwort C)?

Unter den richtigen Einsendungen verlose ich einen MANUFACTUM BROTTOPF EMAILLIERT mit leichten Gebrauchsspuren. Antworten erbitte ich über die Kommentarfunktion - möglichst mit identifizierbaren Absenderangaben - oder per Mail. Der Rechtsweg ist natürlich vollständig und gnadenlos ausgeschlossen.

Aber machen wir zum Thema Manufactum ruhig ein Fass auf, von dem ich nicht weiß, ob es sich in diesem Text rund und schlüssig wieder schließen lässt. Da es nicht die Büchse der Pandora ist, müssen wir uns darum auch nicht sorgen. "Produktvergreisung", so bezeichnete Wolfgang Fritz Haug 1971 in seiner "Kritik der Warenästhetik" jene Form der Zeitbeschleunigung, in der Produkte viel schneller Älter wurden als die Menschen, die sie benutzen. Inzwischen ist dies keine marginale Erscheinung mehr sondern eine alltägliche Erfahrung all jener, die vor der Frage stehen, wie weiter konsumieren? "Produktvergreisung" betrifft nicht mehr nur geringwertige Produkte mit einem modisch-trendigen Äußeren. Zunehmend vergreisen auch Produkte im Zeitraffer, für die man ein paar hundert Euro hinlegen muss.

In jenen fernen Zeiten, in denen ich Kind war, waren Schränke, Möbel und andere Gebrauchsgegenstände noch so haltbar konstruiert und verarbeitet, dass sie ein ganzes Menschenleben hielten. Die besten Stücke wurden auch gerne vererbt. Das Sofa im Wohnzimmer meiner Großmutter stammte noch von ihren Eltern und war der bevorzugte Platz von drei Generationen für den Mittagsschlaf. Mein Patenonkel schenkte mir zur Kommunion eine Armbanduhr. Schon Wochen vorher war ich aufgeregt, da ich ein Geschenk von erheblichem Wert erwartete, das mir die Pforte zum Erwachsenwerden aufstoßen würde. Für die Uhr musste mein Patenonkel richtig sparen. Auf dem Zifferblatt stand in dezenter Schrift "17 Saphire". Mit einer solchen Armbanduhr war man Jemand.

Ich trug sie ungefähr fünfzehn Jahre lang täglich an meinem linken Arm. Ihr unrühmliches Ende musste mein Patenonkel Gott sei Dank nicht miterleben. In einer Lebensphase, in der ich ziemlich viel dadaistischen Unsinn trieb, nagelte ich sie in einer kleinen privaten Performance in einer Zimmerecke, hoch oben unter der Decke, an die Wand. Dies war als klares Statement gegen den Terror der Zeitmessung gedacht und sollte mich unabhängig vom unaufhaltsamen Vorrücken des Sekundenzeigers machen, der Lebenszeit als ruckhaftes Voranschreiten darstellte, anstatt als fließendes Kontinuum. Dort oben an der Wand blieb die Uhr auch hängen, als ich auszog. Ich habe sie niemals wieder gesehen.

Seit etwa zehn Jahren trage ich wieder eine Armbanduhr. Es ist ein Fliegerchronometer mit Handaufzug und hat - wen wundert es - siebzehn Steine. Von einer kleinen Firma im Schwarzwald wird er in überschaubaren Stückzahlen hergestellt. Der Sekundenzeiger rückt in kaum sichtbaren kleinen Schritten voran. Vergesse ich die Uhr anzulegen, fehlt mir etwas.

Mein iPod hingegen ist ein High-Tech Produkt und kommt direkt aus China. Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich mir die Version mit 60 Gigabyte Festplatte gegönnt und rund 250 Euro dafür hingelegt. Die 6o Gigabyte-Variante gibt es nicht mehr. Die vergleichbaren Geräte mit 80 oder 160 Gigabyte Festplatte nennen sich heute beschönigend "Classic". Im Vergleich zum neuen iPod touch sehen sie richtig alt aus.

Apple ist die Computerfirma, deren Innovationszyklen demnächst im Nanosekundenbereich liegen werden. Kauft man ein Apple-Produkt, kann man sicher sein, sich gleich anschließend darüber zu ärgern, nicht noch ein paar Sekunden gewartet zu haben. Das vergällt einem auf Dauer jegliche Konsumeuphorie. Wie toll hingegen ist mein Fernsehgerät der Marke Philips aus dem Jahr 1993. In Bezug auf Zuverlässigkeit, Benutzerfreundlichkeit und Bildqualität schlägt er noch jeden Liquid Crystal Display Firlefanz inklusive Ambilight.

Ganz anders bei den Produkten mit dem angebissenen Apfel. Wofür steht dieses Symbol? Genau: Für den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Statt unsterblich zu sein, driftet der Mensch seitdem unaufhaltsam in Richtung Verfall und Tod. Wer vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, wird vielleicht schlau aber nicht glücklich. Apples angebissener Apfel ist ein klassisches Vanitas-Motiv. Vanitas bezeichnet die christlich-jüdische Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen. In der Kunst der Renaissance findet dieser Konflikt zwischen Demut und Selbstbewusstsein in zahlreichen Kunstwerken Ausdruck. Apples angebissener Apfel sagt uns klar und deutlich: "Nicht nur Du bist sterblich, sondern das Gerät, das vor Dir steht, wird schnell eitler Tand sein. Du wirst es sehen, kaum ist eine Sekunde vorüber, schon gibt es die nächste Generation noch tollerer Geräte und das, auf das du jetzt noch stolz bist, ist hinfällig und ein Entsorgungsfall."

Eines ist sicher: Mit dem Gänsekiel von Manufactum, in heißem Quarzsand "gehornt", wird das nicht passieren.

Die Abbildung am Beginn des Artikels zeigt eine Metallschere aus dem Lexikon der gesamten Technik (1904) von Otto Lueger und steht unter Creative Commons Licence.

Die zweite Abbildung zeigt den Sündenfall von Michelangelo und steht unter Creative Commons Licence.

Sonntag, 23. September 2007

Bombiertes Weißblech


Der gerade erschienene Warenkatalog Nr. 20 des Waltroper Versandhauses Manufactum glänzt erwartungsgemäß nicht nur durch Dinge, die dem Vergessen entrissen werden, sondern auch mit einer feinen Ironie, die man von einem solchen Katalog kaum erwarten kann. Manufactum liefert, nach eigenem Bekunden, eine "fast literarische Warenkunde von Küche, Möbel, Kleidung, Werkzeug bis Spielzeug". Manufacum, das ist die tiefere Wahrheit, lehrt uns vor allem die Demut vor den Dingen.

Bereits vor sieben Jahren unternahm Frank Müller unter dem Titel "Im Reich der Dinge" den Versuch das Phänomen Manufactum umfassend zu beschreiben. So hieß es bereits im Katalog Nr. 11 aus dem Jahr 1999: "Von jedem Thermometer, jedem Küchenherd, jeder Armbanduhr und jeder Personenwaage hat man heute schrille Töne zu vergegenwärtigen. Der Mensch-Maschine-Dialog wird alltagsmächtig, und es ist abzusehen, wie er endet: eine entfesselt fiepsende Gerätschaft auf der einen und eine nervlich zerrüttete Menschheit auf der anderen Seite. Wir halten dagegen: die letzten schweigsamen Geräte." "Wohl aus diesen Gründen", so schreibt Frank Müller, "belegt der Katalog auf der im Streiflicht der "Süddeutschen Zeitung" vom 20.1.1999 geführten Rangliste der wichtigsten Bücher einen ehrenhaften zweiten Platz, nur noch übertroffen von Ovids "Liebeskunst".

Es gibt sie auch in diesem Jahr noch, die guten Dinge. Sie sind aus bombiertem Weißblech oder anodisiertem Aluminium. Viel Bakelit ist dabei, aber auch Duroplast bekommt seine Chance. Man erfährt, dass kaum etwas dichter gewebt ist, als eine zweilagige Mullbindung. Skalen und Beschriftungen werden im "Untereloxaldruck appliziert" oder "tiefgeätzt". Der "Klingenhalter mit System" ist aus "Zamak, vernickelt und mattverchromt." Der Griff der Saphirfeile hingegen ist aus Galalith.

Aber kommen wir zum literarischen Teil - zu den manchmal ironischen Produktbeschreibungen, den kulturgeschichtlichen Exkursen und den warentheoretischen Glaubensbekenntnissen. Da ist der Wäschesprenger aus Bakelit (Seite 252) und dazu heißt es: "Dem, der den Umgang mit technisch komplexen Dampfbügeleisen meidet, hilft dieser althergebrachte Wäschesprenger." Die Hosenträger Herkules (Seite 285) "stehen im Ruf, den deutschen Mann zusammenzuhalten." Oder (Seite 208): "Eine Teekanne, die nicht tropft, müsste aller Erfahrung nach ein Ding sein, das seine Existenz höherer als Menschenmacht verdankt." Ich möchte hinzufügen, dass ich ähnliches über Gasthermen vermute. Über den ZENA Rahmschläger (Seite 191) heißt es: "nach unseren Strichlisten ist dies eines der meistbegehrten Opfer der allgemeinen Küchenelektrifizierung" - was immer das auch heißen,und für was das stehen mag!

Auf Seite 48 finden wir, als Präambel zu den Polstermöbeln, den Satz: "Der Polstermöbelbau ist zu einer Spielwiese für Möbeldesigner geworden, was wir gar nicht tadeln würden, wenn unter den mehr oder minder gelungenen Formen nicht regelmäßig das nackte Elend hauste." Apropos Spielwiese: Für die Kassette mit Rommé, Skat und Würfelspiel (Seite 347) findet man folgende Worte: "Spielkarten zeichnen sich dadurch aus, daß sie, wenn man sie braucht, nicht am vermuteten Platz und, ausnahmsweise doch dort angetroffen, nicht vollständig sind." Wie es gelingen könnte, dieses Ärgernis mit Hilfe der angebotenen Kassette aus der Welt zu schaffen, wird nicht erklärt.

Mein unangefochtener Liebling im neuen Katalog ist die Reliefkarte aus gebördeltem, bombiertem und geprägtem Weißblech auf Seite 39. "Die 70 cm breite Weltkarte aus Stahlblech zeigt die Welt mit ihren Höhen (die Tiefen läßt sie aus)". Das steht für sich genommen schon für eine sehr positive und optimistische Welt- und Weitsicht. Aus dem Marianengraben heraus, kann man nicht besonders weit sehen, was ihn in touristischer Hinsicht sehr unattraktiv macht.

Äußerst gelungen finde ich den abschließenden Satz: Die Reliefkarte aus Stahlblech ist eine "filigran zu nennende Projektion unserer Erde, die die Gewalt der großen Gebirgsformationen ertastbar macht und etwa den Bergisch-Gladbacher auf beeindruckende Weise der Illusion beraubt, er lebe ziemlich weit oben."

Das ist ein Seitenhieb, der sitzt. Da muss den Bergisch-Gladbachern doch schwindelig werden, ob dieser Zurückstutzung in die Höhenregionen einer kaum ertastbaren Erhebung. Im Vergleich zur Schweiz, Österreich und Nepal ist man höhenmäßig höchst mittelmäßig aufgestellt. Da fragt man sich schon was die Waltroper im Kreis Recklinghausen mit den Bergisch-Gladbachern im Rheinisch Bergischen Kreis für einen Strauß auszufechten haben. Waltrop liegt übrigens noch 200 Meter tiefer als Bergisch Gladbach, also bei Auslassung der Tiefen, knapp über der Darstellungsgrenze.

Dank Wikipedia weiß ich jetzt, dass als Bombieren eine wölbende Verformung bezeichnet wird. Allein schon das Maß an Unwissenheit, das wir uns bei der Lektüre des Versandhauskatalogs eingestehen müssen, nötigt uns zur Demut: vor den Machern und vor den Dingen. Frank Müller schrieb: "Denn der Mensch, er paßt gar nicht so recht in das Universum der Dinge. Und wenn er sich doch einmal einschleicht, dann werden ihm von Hoof und Mitarbeitern unnachsichtig die Leviten gelesen."

Inwieweit sich Manufactum verformt, nachdem das literarische Versandhaus seit kurzer Zeit eine hundertprozentige Tochter der Otto-Gruppe ist, bleibt abzuwarten.

Die Abbildung zeigt die Weltkarte von Fra Mauro aus dem Jahre 1459 und steht unter Creative Commons Licence.

Die Welt in drei Zahlen


Heute habe ich Radio gehört, Tagesschau geschaut und Tatort gesehen. Das hat immerhin für drei gewichtige Zahlen gereicht, die ich aus dem medialen Rauschen herausdestillieren konnte.

Die Documenta vermeldete nach den bekannten Hundert Tagen einen Besucherrekord. Trotz der Kritik der Kunstkritik an der Ausstellung - was streng genommen auch Aufgabe der Kunstkritik sein sollte - gibt es einen neuen Besucherrekord: 700.000 Besucher waren in diesem Jahr in Kassel.

Die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt baut ebenfalls heute Nacht den ganzen Tand und Tanderadei wieder ab. Auf der IAA waren in 10 Tagen eine Million Besucher. Eine Steigerung um rund 35.000 Besucher, im Vergleich zum Vorjahr.

Das Oktoberfest hat erst Gestern um Punkt zwölf Uhr die Parole ausgegeben: "Ozapft is". In 17 Tagen werden mehr als 6,5 Millionen Besucher erwartet. Am ersten Wochenende waren es bereits über eine Million.

Das ist eine schöne Bestätigung für den Satz von Bertolt Brecht: "Erst kommt das Fressen und dann die Moral." Erst kommt das Saufen, dann muss man schauen, wie man wo hinkommt und dann vielleicht - wenn es passt - ein wenig Kunst, Kultur und Moral. Das ist die Welt in drei Zahlen. Wer will, kann darüber nüchtern werden.

Das Foto stammt aus Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence.

Dienstag, 18. September 2007

Sehapparate - hört, hört!


Heute hatte ich vor, zu schweigen. Bei meiner Recherche zu "Verpönte Kulturtechniken - das Barren" habe ich einige antiquierte bewegte Bilder entdeckt, die einen schönen Gegenpol zum lärmenden Getöse in YouTube bilden. Die wollte ich zeigen - kommentarlos. Daraus wird aber nichts.

Bei diesem bewegten Bild handelt es sich um die Illusion von Bewegung. Schaut man etwas länger hin, dann wird einem schwindelig. Das finde ich für jede Art der medial vermittelten Wahrnehmung sehr angemessen. Die Illusion von Bewegung wird von einem Phenakistiskop hervorgerufen. Das ist ein Apparat, der mittels eines Stroboskopeffekts die Eigenschaft der menschlichen Netzhaut ausnutzt, so genannte Nachbilder zu erzeugen. Technisch etwas perfektioniert nannte man das einige Zeit später Film, Fernsehen und Video. Interessant ist, dass die ganze multimedial-virtuelle Welt noch immer auf dieser Illusion beruht, die eben jene Eigenschaft unseres Sehapparates ausnutzt Nachbilder zu erzeugen: Ohne Nachbilder kein Film!

Es scheint, dass dies auch ein nützliches Unterscheidungskriterium sein könnte, um einen gefilmten Sonnenuntergang von einem Sonnenuntergang zu unterscheiden, den man mit eigenen Augen sieht. Vieles spricht dafür, dass Sonnenuntergänge in der Wirklichkeit nicht mit 24 fps (= Frames per Second) ablaufen, sondern weniger ruckelig sind. Das käme auch den Benutzern von Facettenaugen sehr entgegen - also beispielsweise Glühwürmchen - da die zeitliche Auflösung bei deren Sehapparaten deutlich höher ist, als bei Linsenaugen, wie sie bei uns Menschen sehr gebräuchlich sind. Mit wie vielen Frames per Second Sonnenuntergänge in der wirklichen Wirklichkeit ablaufen, hat meines Wissens noch niemand ausgerechnet. Ich vermute, dass dabei eine relativ große Zahl herauskäme oder man landet bei der Heisenbergschen Unschärferelation.

Die Eigenschaft unsere Netzhaut Nachbilder zu erzeugen, wird mitunter und manchmal auch als Trägheit unseres Auges - genauer der Rezeptoren auf unserer Netzhaut - beschrieben. Interessant finde ich daran, dass Trägheit und Illusion hier in einen direkten Zusammenhang geraten, den ich jetzt weder philosophisch, noch erkenntnistheoretisch, noch wahrnehmungspsychologisch und schon gar nicht anthropologisch deuten möchte. Medienkritisch könnte man sich allerdings hinter der Behauptung versammeln, dass die gesamte Film- und Fernsehindustrie mit dieser physiologisch bedingten Trägheit so gute Geschäfte macht, dass einem schwindelig werden könnte.

Zum Abschluss möchte ich Vilém Flusser zu Wort kommen lassen. Das Zitat handelt nicht von Sehapparaten und auch nicht von Sprechapparaten. Es geht um Hörapparate. Der Sinn ist aber übertragbar:

Meine Damen und Herren,[...] Glauben Sie bitte nicht, dass ich etwa besser als Sie sähe, nur weil ich schlechter höre. [...] Die griechischen Theorien waren kurzsichtig, weil die Griechen schwerhörig waren. Die Stimme, die in den jüdischen Schriften zu Wort kommt, reichte nicht weit, weil die Juden kurzsichtig waren. [...] Was ich ihnen mitteilen wollte, war also dieses: seitdem ich einen Hörapparat besitze, sehe ich die Welt anders. [...] Wenn Sie auf die Welt hinhören, dann werden Sie merken, dass ihre Geräusche instrumentiert sind. Nicht ein weißes Summen kommt in die Ohren, sondern ein orchestriertes Schwingen. Ein programmierter Lärm. Es muss daher angenommen werden, dass zwischen Ihnen und der Welt irgend ein Tonsieb eingeschaltet wurde, ein Hörapparat eben. [...] Ich habe Sie schon gebeten gehabt, nicht viel von meinen Einsichten ins Hören zu erwarten. [...] Ich bin so kurzsichtig wie Sie, weil meine Taubheit nicht tief genug ist. Auch ich, wenn ich glaube aufzuhorchen, gehorche. Das ist eben so bestellt mit der menschlichen Freiheit. Und doch meine ich, Ihnen einen kleinen Beitrag [...] geboten zu haben. Eben jenen Beitrag, den Schwerhörige dem allgemeinen Gespräch bieten können: nämlich die Aufforderung, sich die Hörapparate anzusehen.

Vilém Flusser, „Hörapparate


Übrigens: Bauteile, mit denen man sich ein Phenakistiskop bauen kann, gibt es bei Fischertechnik. Man sollte jetzt schon an originelle Weihnachtsgeschenke denken! Gerade für Väter, die Golf spielen, ist das ein sehr schönes Präsent für ihre heranwachsenden Söhne. Selbstgemachte Fotosequenzen auf der Driving Range können mit einem mechanischen Spielzeug so kombiniert werden, dass selbst Golf ganz interessant rüberkommt. Weihnachten ist in unseren Breiten ja auch im Winter. Und da haben Väter witterungsbedingt etwas mehr Zeit zum basteln. Es sei denn, sie gehen Skifahren.

Das Foto stammt aus Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence.

Samstag, 15. September 2007

Welcome to the Machine


Gerade komme ich von meiner kleinen Reise zurück und schon gibt es Probleme in meinem heimischen Maschinenpark. Meine Gastherme - gemeinhin als Durchlauferhitzer bezeichnet (siehe Bild unten) - thermt nicht mehr. Will sagen, sie bleibt kalt. Maschinen sind, nach einer unausgesprochenen Übereinkunft zwischen uns Menschen, dazu da, eine angenehme und problemlose Versorgung mit angenehmen und problemlosen Dingen sicherzustellen. Manchmal schaffen Maschinen aber Probleme, von denen man nicht dachte, dass man sie haben würde, wenn man gerade aus dem Urlaub zurückkommt. Mein größtes Problem ist: Morgen muss ich kalt duschen.

Durchlauferhitzer sind die kompliziertesten Maschinen, die man sich vorstellen kann. Bei Gasthermen spielen Gas, Strom und Wasser in einer Weise zusammen, die sich den meisten Menschen niemals erschließen wird. Das nebenstehende Foto vermittelt davon nur einen unzureichenden Eindruck. Dass mir gerade jetzt Welcome to the Machine von Pink Floyd (hier der Text) einfällt, ist Zufall, führt aber weiter hinein, in die Welt der Maschinen. An dieser Stelle wäre es vielleicht angebracht, zu erwähnen, dass meine kleine Reise unter dem Motto stand, "Der Weg ist das Ziel". Vor vielen Jahren habe ich schon einmal eine ähnliche Reise mit meinem damaligen Reisegefährten Reimer F. unternommen. Als wir nach einem dreiwöchigen Urlaub unsere Urlaubsfotos zeigten, fiel allen auf, dass alle Bilder in voller Fahrt aus dem Auto heraus aufgenommen worden waren. Wir hatten das damals noch bestehende Jugoslawien und Griechenland hin und zurück durchquert. In der Türkei lag der Scheitelpunkt unserer Reise irgendwo an einem nassen, grauen Strand am Schwarzen Meer. Nach einer grauenvollen und nassen Nacht im Auto ging es den ganzen langen Weg zurück.

Mit Hilfe meines Automobils habe ich auch dieses Mal gewaltige Strecken zurückgelegt. Im Unterschied zu damals, hatte ich auf dieser Fahrt ein Navigationssystem. Zerstreuung lieferte die eingebaute Vorrichtung, mit der ich meinen iPod anschließen konnte. Automobile, Navigationssysteme und iPods sind, nebenbei erwähnt, nicht annähernd so kompliziert wie Gasthermen. Wen weder Automobile, noch Navigationssysteme, iPods oder Gasthermen interessieren, sollte jetzt aus dem Text aussteigen und lieber das Essay von Pier Paolo Pasolini Über das Verschwinden der Glühwürmchen lesen.

Wer viel unterwegs ist, weiß nicht immer, wann er wo gewesen ist. Maschinen könnten da helfen: Welcome my son, welcome to the machine. Where have you been? It's alright we know where you've been. Meine iPod-Maschine weiß, dass ich am 29. Mai 2004 um 1 Uhr und 33 Minuten Night and Day von Billie Holiday zum letzten Mal gehört habe. Ich kann mich leider nicht erinnen, wo das gewesen sein soll. Meine iPod-Maschine weiß auch, dass ich am 13. September um 15 Uhr und 23 Minuten Slowpoke von Crosby, Stills, Nash and Young gehört habe. Danach, das weiß ich, drang ich mit meinem Automobil in den Sendebereich des Bayerischen Rundfunks ein. Ich schaltete den iPod ab und das Radio ein. Dort lief wenig später ein interessantes Wissenschaftsfeature über "Orientierung und die Welt der Daten". Dabei ging es um Geoinformationssysteme.

Geoinformationssystem sind momentan überhaupt das ganz große Ding. Das Navigationssystem in meinem Auto ist so ein Ding. Lasse ich es zu, vollständig informiert zu sein, dann sehe ich vor lauter Hotels, Restaurants, Sehenswürdigkeiten, Rast- und Tankstellen, Nationalparks und Einkaufszentren die Landkarte nicht mehr. Dieses ganz große Ding ist allerdings nur ein Teil eines noch größeren Dings. Dieses größere Ding umfasst ein Infodings, mit dem man Verkehrsdurchsagen, wann immer man will, nochmals hören kann. Es umfasst ein weiteres Dings, das die Verkehrsdurchsagen einblendet, wenn man gerade iPod hört. Ein weiteres Dings leitet die auf dem Mobiltelefon eingehenden Anrufe auf die zum Dings gehörende Freisprecheinrichtung.

Man glaubt es nicht, wie häufig die Hinweise des Navigationsdings, Verkehrsdurchsagen und eingehende Anrufe in einer ganz unwahrscheinlichen Synchronizität eingehen. Kaum nimmt man einen Anruf entgegen, plärrt das Navigationsdings "Achtung, Gefahrensituation in 30 Kilometern!". Das Verkehrsdurchsagedings quäkt dazwischen "Auf der A1 zwischen Nonnweiler-Primstal und Tholey-Hasborn in Fahrtrichtung Saarbrücken blockiert eine Doppelhaushälfte beide Fahrbahnen." Während man sich noch wundert, was Leute alles auf Autobahnen verlieren, soll man gleichzeitig telefonieren. Das ist der ultimative multimediale Overkill. Ich bin schon über rote Ampeln gefahren, weil mich die auf allen Kanälen eingehenden Informationen so abgelenkt haben, dass ich vollkommen vergessen hatte, dass ich gerade Auto fuhr.

Das ultimative Ding in der nächsten Zukunft wird allerdings sein, dass die Informationen auf meinem iPod mit Geoinformationssystemen verknüpft werden. Dann weiß ich nicht nur wann ich einen bestimmten Song gehört habe, sondern auch wo. Die googelige Firma, mit Sitz in Mountain View, sollte es doch hinkriegen mit ihrem Nachbarn aus Cupertino, dafür die Grundlagen zu schaffen.

Ich erinnere mich noch, dass ich in einem bestimmten Lebensalter immer "Wish you were here" von Pink Floyd gehört habe. Das hat meine damalige Liebste ziemlich genervt. Dieser Song war noch in Vinyl gepresst und lief auf meinem Dual-Plattenspieler über einen Kenwood-Verstärker. Die genauen Abspieldaten lassen sich deshalb leider nicht mehr ermitteln. Im Gegenzug nervte mich meine Ex-Frau monatelang mit dem Bruce Hornsby Titel The Way It Is. Das muss zwischen 1985 und 1987 gewesen sein. Leider läßt sich auch das weder zeitlich noch räumlich genauer verorten. Aber damit ist hoffentlich bald Schluss.

Wo ich morgen duschen kann, weiß ich immer noch nicht. Vielleicht kennt mein Navigationssystem ein Fitnessstudio in meiner Nähe, das gerade Schnupperduschen zum Schnäppchenpreis anbietet.

Das Foto stammt aus Wikipedia und steht unter Creative Commons Licence.

Mittwoch, 5. September 2007

Pardauz: Pfefferkuchen


Es mag am fortgeschrittenen Sommer liegen, der in meiner Erinnerung schon so verblasst ist, als habe er nie stattgefunden. Gestern dachte ich ganz plötzlich an Pfefferkuchen. Heute hab ich im Supermarkt Dominosteine gekauft. Und gerade hab ich die Heizung angeworfen.

Ich weiß nicht, ob die Warenwirt- schaftssysteme des deutschen Lebensmittel- einzelhandels mit Jörg Kachelmanns Firma Meteomedia so verkuppelt sind, dass sie dort die "gefühlte Temperatur" extrahieren können: Die Temperatur sinkt und plötzlich wird's Weihnachten in den Regalen. Wahrscheinlich ist es viel simpler. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Auftauchen von Apfel, Nuss und Mandelkern und dem Ende der Sommerpause von Reinhold Beckmann, ist wahrscheinlich vollkommen aus der Luft gegriffen. Weshalb sollte das angenehme Auftauchen von saisonalen Süßigkeiten in Supermärkten mit einem unangenehmen Ereignis, wie der Rückkehr von Beckmanns Talkshow im Ersten in einem direkten Zusammenhang stehen? Vielleicht ist man der Ansicht, alles im Leben habe seinen Preis? Und Ying und Yang bringe die saisonalen Süßigkeiten mit Beckmanns Rückkehr aus der Sommerpause in einen untergründigen Zusammenhang des Ausgleichs der Gegensätze? Eine ähnlich windige Theorie wäre, dass die vorweihnachtliche Völlerei zu medialen Katastrophen führe und insgesamt für das lausige Fernsehprogramm verantwortlich sei. Strafverschärfend dann gleich für das ganze Jahr. Oder sorge für Überschwemmungen in Griechenland.

Wenn man die High-Tech-Erklärung ebenso ausschließt, wie die esoterische Vernetzungstheorie von Allem mit Jedem und Jedem mit Allem, dann bleibt nur noch eine sehr einfache Erklärung übrig. Noch bevor der Letzte aus dem Sommerurlaub zurück ist, werden die Regale mit süßen Verheißungen gefüllt, die dem Rückkehrer zurufen: "Halt durch, bald ist Weihnachten!" Dies scheint umso notwendiger, da die gefühlte Urlaubserholung, nach drei Wochen am Arbeitsplatz komplett aufgebraucht ist (laut Wirtschaftsmagazin Capital Nr. 18 auf Seite 12). Für Süßes und Genussvolles beginnt nach der sommerlichen Urlaubszeit zudem ein jährlicher wiederkehrender Wachstumszyklus. Denken wir nur an die alljährliche stattfindende Inkarnation von Mon Chéri.

Während Bären sich auf der nördliche Halbkugel allerorten ihren Winterspeck anfressen, Eichhörnchen emsig wie Eichhörnchen Nüsse sammeln und Zugvögel in Zugvogelschwärmen nach Süden ziehen, endet für viele Menschen jene Phase, die im Vorfrühling mit Frühlingsdiäten und Fitnesstraining begonnen hat. Nach all den Entbehrungen, wird das Leben wieder süß und üppig. "Süßer die Glocken nie klingen" - wir hören sie schon jetzt. In ihrem Klang lassen wir uns ein wenig gehen, denn die gefühlte Entfernung zu Weihnachten ist nicht mehr so weit. Als Ethnologe könnte man behaupten, all diese Dinge beschleunigen unsere Zeitwahrnehmung. Valentinstag und Halloween bringen zusätzlichen Stress in den Ablauf der Dinge. Ein Ereignis jagt das nächste. Zwischen Frühlingsdiät und herbstlichem Zulegen, liegen gefühlte drei Wochen Urlaub. Natürlich ist man in diesen drei Wochen mobil erreichbar und im Grunde gar nicht fort, sondern nur ein wenig weg und trotzdem ständig verfügbar. Ich weiß nicht, ob andere Ethnologen, außer mir, dies behaupten. So kurz vor Weihnachten fehlt mir die Zeit für eine gründlichere Recherche. Wie sagte doch mein Freund Markus: "Sag mir mal, wann das war, damit ich ein Gefühl dafür bekomme, wie lange das her ist!"

Jedenfalls ist flugs das gesamte Repertoire der weihnachtlichen Süßigkeiten mit Kawumm in den Regalen des Einzelhandels gelandet. Kürzlich gab es noch Grillkohle in rauen Mengen. Und jetzt, pardauz, ist Vorweihnachtszeit.

Vordergründig habe ich bisher über Zeitwahrnehmung, Sommer und vorweihnachtliche Süßigkeiten gesprochen. Ein wenig hintergründiger geht es um Worte. Bei meinen Recherchen habe ich herausgefunden, dass man Wortpate werden kann, um bedrohte Worte vor dem Untergang zu retten. Bastian Sick beispielsweise hat sich das Wort "einander" ausgesucht. Eine gute Wahl, wie ich finde. Nina Ruge hingegen will sich für die Wortfolge "Alles wird gut" einsetzen. Keine gute Wahl! Liest man sich die Liste der prominenten Wortpaten durch, dann weiß man wie schwachsinnig wohlmeinende Initiativen im Internet enden können: Silberhochzeit - Iris Berben, Familiensinn - Dr. Ursula von der Leyen, Inkontinenz - SCA Hygiene Products GmbH, Freiheit - Ulrich Wickert, Drogeriemarkt - Dirk Rossmann GmbH.

Es gibt eine Initiative, die das Thema seriös behandelt. Bodo Mrozek, Autor des Buches "Lexikon der bedrohten Wörter" veröffentlicht auf seiner "Website" eine Rote Liste der Wörter, die vom Aussterben bedroht sind. In diese Liste würde ich meine schützenswerten Vokabeln einreihen. Diese sind: Pfefferkuchen, Kawumm, flugs und Pardauz.

Für den lautmalerischen Begriff Kawumm gibt es nicht einmal einen Eintrag im Duden. Pardauz ist dort als veraltet gebranntmarkt. Eine nicht mehr existierende Webseite meint, Pardauz gehöre "zur Kleinkindsprache" und besage "soviel wie 'hingefallen'". Kleine Kinder sagen allerdings nicht "pardauz", wenn sie hinfallen. Sie schreien. Pardauz sagten früher Erwachsene, wenn ganz flugs, plötzlich und überraschend ein Ereignis mit Kawumm eintrat, das so nicht unbedingt vorhersehbar war. Mit Pardauz fielen Bilder von den Wänden, oder Regale brachen mit Getöse zusammen. Padrauz sagte man hin und wieder, wenn endlich einmal ein Kind hinfiel. Das hieß dann soviel wie, "Da bist du aber mit Schwung aus vollem Lauf auf die Fresse gefallen".

Ich meine, die Worte flugs, Kawumm und Pardauz könnten in unserer komplexen Welt eine ganz große Zukunft haben. Mit ihnen kann man das folgende aktuelle Geschehen ganz trefflich beschreiben: Da investiert ein sächsische Landesbank, über eine irländische Tochtergesellschaft, in us-amerikanische Immobilienfonts und, pardauz, mit heftigem Kawumm ist das ganze Geld futsch. Flugs wird der ganze Laden an die LBBW verkauft.

Kleine Notiz am Rande: Wäre die Demutsforschung in Deutschland weiter, und wäre sie in den Vorstandsetage der deutschen Konzerne als ernstzunehmender Forschungszweig etabliert, das Risikobewusstsein für solche Transaktionen wäre sicher höher.

Und zum Schluß: Trefflich ist auch so ein Begriff, der zur weiteren Verwendung von mir empfohlen wird. Aber darüber läßt sich trefflich streiten.

Das Foto stammt aus Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence.