Es mag am fortgeschrittenen Sommer liegen, der in meiner Erinnerung schon so verblasst ist, als habe er nie stattgefunden. Gestern dachte ich ganz plötzlich an Pfefferkuchen. Heute hab ich im Supermarkt Dominosteine gekauft. Und gerade hab ich die Heizung angeworfen.
Ich weiß nicht, ob die Warenwirt- schaftssysteme des deutschen Lebensmittel- einzelhandels mit Jörg Kachelmanns Firma Meteomedia so verkuppelt sind, dass sie dort die "gefühlte Temperatur" extrahieren können: Die Temperatur sinkt und plötzlich wird's Weihnachten in den Regalen. Wahrscheinlich ist es viel simpler. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Auftauchen von Apfel, Nuss und Mandelkern und dem Ende der Sommerpause von Reinhold Beckmann, ist wahrscheinlich vollkommen aus der Luft gegriffen. Weshalb sollte das angenehme Auftauchen von saisonalen Süßigkeiten in Supermärkten mit einem unangenehmen Ereignis, wie der Rückkehr von Beckmanns Talkshow im Ersten in einem direkten Zusammenhang stehen? Vielleicht ist man der Ansicht, alles im Leben habe seinen Preis? Und Ying und Yang bringe die saisonalen Süßigkeiten mit Beckmanns Rückkehr aus der Sommerpause in einen untergründigen Zusammenhang des Ausgleichs der Gegensätze? Eine ähnlich windige Theorie wäre, dass die vorweihnachtliche Völlerei zu medialen Katastrophen führe und insgesamt für das lausige Fernsehprogramm verantwortlich sei. Strafverschärfend dann gleich für das ganze Jahr. Oder sorge für Überschwemmungen in Griechenland.
Wenn man die High-Tech-Erklärung ebenso ausschließt, wie die esoterische Vernetzungstheorie von Allem mit Jedem und Jedem mit Allem, dann bleibt nur noch eine sehr einfache Erklärung übrig. Noch bevor der Letzte aus dem Sommerurlaub zurück ist, werden die Regale mit süßen Verheißungen gefüllt, die dem Rückkehrer zurufen: "Halt durch, bald ist Weihnachten!" Dies scheint umso notwendiger, da die gefühlte Urlaubserholung, nach drei Wochen am Arbeitsplatz komplett aufgebraucht ist (laut Wirtschaftsmagazin Capital Nr. 18 auf Seite 12). Für Süßes und Genussvolles beginnt nach der sommerlichen Urlaubszeit zudem ein jährlicher wiederkehrender Wachstumszyklus. Denken wir nur an die alljährliche stattfindende Inkarnation von Mon Chéri.
Während Bären sich auf der nördliche Halbkugel allerorten ihren Winterspeck anfressen, Eichhörnchen emsig wie Eichhörnchen Nüsse sammeln und Zugvögel in Zugvogelschwärmen nach Süden ziehen, endet für viele Menschen jene Phase, die im Vorfrühling mit Frühlingsdiäten und Fitnesstraining begonnen hat. Nach all den Entbehrungen, wird das Leben wieder süß und üppig. "Süßer die Glocken nie klingen" - wir hören sie schon jetzt. In ihrem Klang lassen wir uns ein wenig gehen, denn die gefühlte Entfernung zu Weihnachten ist nicht mehr so weit. Als Ethnologe könnte man behaupten, all diese Dinge beschleunigen unsere Zeitwahrnehmung. Valentinstag und Halloween bringen zusätzlichen Stress in den Ablauf der Dinge. Ein Ereignis jagt das nächste. Zwischen Frühlingsdiät und herbstlichem Zulegen, liegen gefühlte drei Wochen Urlaub. Natürlich ist man in diesen drei Wochen mobil erreichbar und im Grunde gar nicht fort, sondern nur ein wenig weg und trotzdem ständig verfügbar. Ich weiß nicht, ob andere Ethnologen, außer mir, dies behaupten. So kurz vor Weihnachten fehlt mir die Zeit für eine gründlichere Recherche. Wie sagte doch mein Freund Markus: "Sag mir mal, wann das war, damit ich ein Gefühl dafür bekomme, wie lange das her ist!"
Jedenfalls ist flugs das gesamte Repertoire der weihnachtlichen Süßigkeiten mit Kawumm in den Regalen des Einzelhandels gelandet. Kürzlich gab es noch Grillkohle in rauen Mengen. Und jetzt, pardauz, ist Vorweihnachtszeit.
Vordergründig habe ich bisher über Zeitwahrnehmung, Sommer und vorweihnachtliche Süßigkeiten gesprochen. Ein wenig hintergründiger geht es um Worte. Bei meinen Recherchen habe ich herausgefunden, dass man Wortpate werden kann, um bedrohte Worte vor dem Untergang zu retten. Bastian Sick beispielsweise hat sich das Wort "einander" ausgesucht. Eine gute Wahl, wie ich finde. Nina Ruge hingegen will sich für die Wortfolge "Alles wird gut" einsetzen. Keine gute Wahl! Liest man sich die Liste der prominenten Wortpaten durch, dann weiß man wie schwachsinnig wohlmeinende Initiativen im Internet enden können: Silberhochzeit - Iris Berben, Familiensinn - Dr. Ursula von der Leyen, Inkontinenz - SCA Hygiene Products GmbH, Freiheit - Ulrich Wickert, Drogeriemarkt - Dirk Rossmann GmbH.
Es gibt eine Initiative, die das Thema seriös behandelt. Bodo Mrozek, Autor des Buches "Lexikon der bedrohten Wörter" veröffentlicht auf seiner "Website" eine Rote Liste der Wörter, die vom Aussterben bedroht sind. In diese Liste würde ich meine schützenswerten Vokabeln einreihen. Diese sind: Pfefferkuchen, Kawumm, flugs und Pardauz.
Für den lautmalerischen Begriff Kawumm gibt es nicht einmal einen Eintrag im Duden. Pardauz ist dort als veraltet gebranntmarkt. Eine nicht mehr existierende Webseite meint, Pardauz gehöre "zur Kleinkindsprache" und besage "soviel wie 'hingefallen'". Kleine Kinder sagen allerdings nicht "pardauz", wenn sie hinfallen. Sie schreien. Pardauz sagten früher Erwachsene, wenn ganz flugs, plötzlich und überraschend ein Ereignis mit Kawumm eintrat, das so nicht unbedingt vorhersehbar war. Mit Pardauz fielen Bilder von den Wänden, oder Regale brachen mit Getöse zusammen. Padrauz sagte man hin und wieder, wenn endlich einmal ein Kind hinfiel. Das hieß dann soviel wie, "Da bist du aber mit Schwung aus vollem Lauf auf die Fresse gefallen".
Ich meine, die Worte flugs, Kawumm und Pardauz könnten in unserer komplexen Welt eine ganz große Zukunft haben. Mit ihnen kann man das folgende aktuelle Geschehen ganz trefflich beschreiben: Da investiert ein sächsische Landesbank, über eine irländische Tochtergesellschaft, in us-amerikanische Immobilienfonts und, pardauz, mit heftigem Kawumm ist das ganze Geld futsch. Flugs wird der ganze Laden an die LBBW verkauft.
Kleine Notiz am Rande: Wäre die Demutsforschung in Deutschland weiter, und wäre sie in den Vorstandsetage der deutschen Konzerne als ernstzunehmender Forschungszweig etabliert, das Risikobewusstsein für solche Transaktionen wäre sicher höher.
Und zum Schluß: Trefflich ist auch so ein Begriff, der zur weiteren Verwendung von mir empfohlen wird. Aber darüber läßt sich trefflich streiten.
Das Foto stammt aus Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence.
Mittwoch, 5. September 2007
Pardauz: Pfefferkuchen
Eingestellt von Reinhard um 00:01
Labels: Demutsforschung, Ethnologie, Kulturkritik, Sprache
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1 Kommentar:
Lieber Reinhard, vielen Dank dafür, dass Du das Wort "pardauz" zurück ins Leben katapultiert hast! Es hat einen so herrlichen Klang...
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