Montag, 3. März 2008

Voll normal


Was ist schon normal? Erst kürzlich sah ich mich überraschend und nach sehr langer Zeit wieder einmal mit dieser Frage konfrontiert. Als Kind und Heranwachsender traktierten mich meine Eltern häufig mit dem Satz: "Kannst Du Dich nicht mal wie ein normaler Mensch benehmen?" Dieser Satz traf mich meist dann, wenn ich es am wenigsten erwartet hatte. Meist ging ihm ein gewisser Bewegungsdrang, gepaart mit einer partiellen Geistesabwesenheit meinerseits voraus. Ich konnte augenscheinlich nicht so gut normal sein, wenn ich nicht alle meine Sinne beisammen hielt.

Das Normale hat mich als Ver- haltensmaßstab von Hause aus nie sonderlich gereizt. Das war eher der Teil unseres Familienlebens, der sich sehr langweilig dahinzog. Normverletzungen brachten da doch hin und wieder etwas Abwechslung. Heute hingegen find ich die Abkehr vom Normalen schon mal beunruhigend.

An dem ersten frühlingshaften Samstagnachmittag im Februar passierte mir in einem sonnenbeschienenen nordbadischen Biergarten folgendes: Ich bestellte ein Tonic Water und der Kellner stellte mir die Gegenfrage "Groß oder klein?" Hatte ich es doch in den letzten Jahrzehnten als ausgesprochen angenehm empfunden, dass ein Tonic Water überall in Deutschland ein Tonic Water geblieben war und es überall in Deutschland in unabänderlich feststehenden Mengen von 0,2 Litern serviert wurde - vorzugsweise und wenn nicht anders verlangt, mit Eis und Zitrone. Bislang erschien mir das wie ein Gesetz, das in Tontafeln geritzt auch noch die nächsten zweitausend Jahre Bestand haben würde. Die Bestellung eines Tonic Waters gab noch niemals Anlass zu lästigen Fragen und Wünschen nach Präzisierungen. Nie war man solch qualvollen Verhörsituationen ausgesetzt, wie man sie als Gelegenheitsesser bei McDonalds überstehen muss: Menü? Soße? Fritten? Groß, mittel, klein? Zum Mitnehmen?

Bei Apfelsaftschorle ist es voll normal, dass man seiner Bestellung ein differenzierendes "groß" oder "klein" hinzufügt. Auch ein Pils kommt in ganz unterschiedlichen Abfüllmengen vor und man kann seine Kneipenkonversation ganz entspannt weiter verfolgen, wenn man seine Bestellung gleich in Richtung "großes Pils" oder "kleines Pils" präzisiert. Tonic Water jedoch war ähnlich wie Bitter Lemmon oder Ginger Ale bislang eine wirksame Rückversicherung gegen genußverzögernde Nachfragen bezüglich der Quantitäten der Bestellung. Die verlangte Qualität erstickte jede Frage nach Quantitäten im Keim. Schweppes, das waren Null-Komma-Zwo-Liter-Flaschen und ein Glas plus Eis, plus Zitrone und wenn es ein Gin-Tonic sein sollte, auch plus Gin. So war es in der Welt bisher geregelt, und das war auch gut so!

Ich antwortete in jenem sonnenbeschienenen Biergarten auf die unerwartete Frage, ob das Tonic Water in groß oder in klein angeliefert werden solle, mit einem sehr herablassenden "normal", worauf der Kellner tatsächlich zur Ausführung des Auftrags enteilte. Meine Begleiterin machte mich sogleich darauf aufmerksam, dass "normal" keine Antwort auf die Frage gewesen sei. Ich erwiderte, dass ich davon ausgehe, dass auch einem Kellner der Sinn für das Normale nicht vollkommen abhanden gekommen sein dürfte. Die Lieferung gab mir Recht: Ich erhielt Null-Komma-Zwo-Liter Tonic Water, allerdings ohne Zitrone.

Als ich am Abend des gleichen frühlingshaften Tages zum Tanken anhielt, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass etwas an den groß angeschlagenen Preisen der unterschiedlichen Treibstoffsorten nicht so ganz normal sein konnte: Gab es jetzt Super zum Preis von Normalbenzin? Oder, noch schlimmer, Normalbenzin zum Preis von Super? Jedenfalls stand bei beiden Sorten 141,9 Eurocent der Liter.

Für die meisten, die das jetzt lesen, mag das Schnee von Gestern sein. Wie ich hörte hat Aral bereits im November 2007 den Preis für Normalbenzin auf den Preis für Super erhöht. Eine satte Preiserhöhung für all diejenigen, denen Normalbenzin bisher genügte. Der Marktanteil der Otto-Normal-Tanker hat sich seither von 25 Prozent auf 14 Prozent reduziert. Jetzt denken die Mineralölkonzerne darüber nach Normalbenzin komplett abzuschaffen. Der Ami-Blog schreibt dazu: "'Schuld' sei der Absatzeinbruch bei Normal-Benzin. Nur noch 14 Prozent statt 25 Prozent mache der Anteil von Otto Normal am Gesamtabsatz aus. Womit die Konzerne erreicht haben dürften, was sie wollten: Normal teurer machen, damit Super mehr gekauft wird. Super gemacht, liebe Multis. Nächste Stufe: Super wird teurer, weil's ja mehr nachgefragt wird." Tja, so funktioniert die Preisbildung in der Marktwirtschaft.

Dem Magazin der Süddeutschen Zeitung war dies Anfang Februar unter der Überschrift "Das Prinzip Normal" einen Beitrag wert. Andreas Bernard schreibt dort: "Vertraute Eichpunkte, Standards und Normgrößen lösen sich auf und werden von Kategorien ersetzt, die ursprünglich für einen besonderen Mehrwert, einen Überschuss standen. Wie an den Zapfsäulen nun kein »Normal« mehr getankt werden kann, gibt es in Cafés oder Kinos die Getränkegröße »Medium« nicht mehr (geschweige denn die Einheit »klein«.) Die Kaffeegrößen bei Starbucks beginnen bekanntlich bei »tall«, gefolgt von »grande«; die Skala besteht also nur noch in Varianten von groß. Und wer in Multiplex-Kinos arglos mittlere Popcornbecher bestellt, darf mit Portionen in Eimergröße rechnen."

Es ist schon klar wie die Abschaffung des Normalbenzins von Aral und Konsorten kommuniziert werden wird. Es handelt sich um ein Upgrade im Sinne des Klimaschutzes, da Super einfach super Leistung bringt und auch nicht mehr Kohlendioxyd emittiert. Alles voll normal, oder?

Das Foto stammt vom Autor des Beitrags und steht unter Creative Commons Licence.

Montag, 11. Februar 2008

Doppelte Leerzeichen - oder: Das Gelbe vom Ei (Fortsetzung)


In Chile gibt es ganz eigenartige Phänomene, die nicht einfach zu erklären sind. Auch nach vielen Wochen in diesem Land, das ja unheimlich lang und eintönig sein kann, bleibt vieles geheimnisvoll. In Santiago de Chile beispielsweise gibt es Straßenkreuzungen an denen man Dienstags und Freitags nicht rechts abbiegen darf. Ist man zufällig mal automobil in dieser Stadt unterwegs, sollte man immer wissen, welcher Wochentag gerade ist. Es ist sehr peinlich, dort den Verkehr zu blockieren, weil einem partout nicht einfallen will, dass gerade Mittwoch ist.

Chile hat mit seinem Nachbarland Peru vieles gemeinsam. Zum Beispiel die Wüste. Man spricht mehr oder weniger die gleiche Sprache, man hat eine gemeinsame Grenze und einen gemeinsamen Grenzkonflikt, der seine Wurzeln im Salpeterkrieg von 1879 hat und den man seither sehr pfleglich behandelt. Bereits erwähnt hatte ich, dass sich Peru und Chile außerdem darum streiten, wer den Pisco erfunden hat (siehe den Beitrag Das Gelbe vom Ei). Pisco Sour trinkt man in beiden Ländern. Darauf werden wir später noch zurückkommen.

Viel erstaunlicher ist: Auch in Chile kippen aus unerklärlichen Gründen Automobile um und liegen dann auf ihrer sehr verletzlichen schmalen Seite, was dem Ein- und Aussteigen nicht sehr förderlich ist. In Chile sind dies allerdings keine Polizeifahrzeuge, wie in Peru, sondern Taxis. Chilenische Taxis habe ich deshalb, wo es ging, gemieden. Fährt man in diesem sehr langen Land, die sehr langen Strecken nach Norden oder nach Süden, dann fällt auf, dass es kaum einen Quadratmeter auf den sehr langen Straßenbegrenzungen der sehr langen Landstraßen gibt, wo keine Reifenteile liegen. Man könnte glauben, dass ein sehr hoher dreistelliger Prozentsatz aller jemals weltweit geplatzten Reifen als Reifenplatzregen über chilenischen Überlandstraßenrandstreifen niedergegangen sein muss. Es ist ein Teppich von zerfetzten schwarzen Laufflächen und Reifenkarkassen in ganz unterschiedlichen Größen, der den Reisenden überall am Rande der Fernstraßen mit der Frage konfrontiert: Wie vergänglich ist eigentlich Gummi?

Die Frage nach Leben, Tod und Vergänglichkeit stellt sich längs der langen chilenischen Landstraßen auch in anderer Hinsicht. Auffällig sind die zahlreichen Kultstätten, die oft auch in Wüstengegenden, der eintönigen Fahrt ein gewissen Reiz verleihen. Manchmal ist es nur ein einfaches, schmuckloses Holzkreuz. Manchmal ist es ein gemauertes Minimausoleum, das einer ganzen Familie von Wüstenspringmäusen eine gemütliche Heimstatt bieten könnte. Es gibt aber auch komplette Andachtserlebnisoasen im Maßstab 1:1 mit Ruhebank, Grill, Kunstrasen und Sonnenschutz. Solche Anlagen sind oft tipptopp gepflegt und laden den einsamen Wüstenfahrer zu kleinen Rasten ein. Auf der Ruhebank sitzend, die Devotionalien vor Augen, fragt man sich "Warum gibt es hier eigentlich keinen Swimmingpool?" oder, "Gibt es einen Zusammenhang zwischen all diesen Kultstätten am Wegesrand und dem Teppich aus Reifenteilen auf den Seitenstreifen?"

Da erweist es sich als sehr vorteilhaft, wenn man mit Einheimischen sprechen kann. Tatsächlich, so meine chilenischen Gewährsmänner und -frauen, stehe jede dieser Kultstätten für einen oder sogar mehrere Verkehrstote. Es gäbe sogar Orte, da seien Autobusse verunglückt und man wisse gar nicht, für wieviele Verkehrstote da die Kultstätte stünde. Wäre mir zu Beginn meiner ausgedehnten Fahrten durch dieses lange Land klar gewesen, wie riskant die automobile Fortbewegung in Chile ist, so hätte ich viel weniger Angst vor Erdbeben und Vulkanausbrüchen gehabt. Hier saß ich also nun auf gerader Strecke, Mitten in der Atacamawüste, in relativ verkehrsberuhigter Lage, auf der Bank der Kultstätte für Mauricio Roque Perez Gomez, dem Miteigentümer des gutgehenden Abschleppunternehmens Gebrüder Perez, der hier am 21. Mai 2005 die Gewalt über seinen Abschleppwagen verlor, als er einem umgekippten Taxi ausweichen musste und dabei einer seiner Reifen platzte. Die Reifenteile kann man von der Kultstätte aus gut sehen. Das Taxi wurde inzwischen weggeräumt.

Die Chilenen haben übrigens 1884 den Salpeterkrieg gewonnen und in den seither vergangenen Jahren geben sie sich sehr großzügig, was die Frage angeht, wer den Pisco erfunden hat. Den Peruanern eilt in Chile der Ruf voraus, sie hätten die beste Küche, wenn nicht der ganzen Welt, so doch des ganzen südamerikanischen Kontinents. Auch die Peruaner finden das. Wer also in Chile ein gutes Restaurant sucht, wird zum Peruaner geschickt. Dort, das bekommt man mit auf den Weg, gibt es auch den besten Pisco Sour. Man müsse allerdings darauf achten, dass es der peruanische Pisco ist, der als Grundstoff verwendet wird. Die Chilenen vergeben sich offensichtlich nichts, wenn sie die Qualität des peruanischen Piscos anerkennen. Schließlich haben sie den Peruanern am Ende des 19. Jahrhunderts eine komplette Provinz abgenommen. Da kann man die unterlegenen Nachbarn schon mal für sich kochen lassen und deren Pisco loben.

Ein Rätsel, um die Herstellung eines guten Pisco Sour, konnte inzwischen gelöst werden. Für einen Pisco Sour, man erinnere sich, braucht man Eiklar. Was aber, so lautete die Frage, zu der man sich in Peru nicht äußern wollte, geschieht mit dem ganzen Eigelb? Die Chilenen geben sich keine große Mühe, den Skandal zu verbergen: Das Eigelb, es wird weggeworfen.

Rätselhaft bleibt jedoch eine Eigenart der Chilenen, die deshalb besonders eigenartig ist, weil die Chilenen kein Bewußtsein darüber entwickelt haben, dass diese Eigenart ihnen eigen ist. Chilenen verstecken in jedem gedruckten Text, mag er auch noch so klein sein und nur aus wenigen Wörten bestehen, ein doppeltes Leerzeichen. Ich hier übrigens auch, aber man wird es nicht finden.

Die Photos stammen vom Autor des Beitrags und stehen unter Creative Commons Licence.