Die Bewohner der Stadt Bern, so sagt man, seien langsam. Vor einigen Monaten hatte ich Gelegenheit dies persönlich zu überprüfen. Berner sind wesentlich langsamer als Berliner. Sie sind ungefähr so schnell, wie die Menschen aus Sankt Peter-Ording
Eine Freundin erzählte mir gestern, sie sei auf einem Konzert von Helge Schneider gewesen. Helge Schneider habe auf diesem Konzert behauptet, die Schweiz gäbe es nur wegen der Tektonik der Kontinental-
platten und hätte sich deswegen erst kürzlich “aufgebauscht”.
In der Tat triftete vor zirka 130 Millionen Jahren die afrikanische Kontinentalplatte nach Norden und trieb die adriatische Platte wie einen Sporn in unsere europäische Heimatplatte. Was sich in der Folge ganz langsam aufbauschte ist heute – neben Österreich, dem Kaukasus und dem Himalaya – die Schweiz. Die Schweiz ist damit – und das sollte man wissen – wesentlich jünger als der Rest Europas – außer Österreich.
Besucht man Bern, dann hat man diese Aufbauschung als Tatsache vor Augen. Die “Innere Stadt” – die Altstadt von Bern – liegt in einer Flussbiegung der Aare, die hier eine abrundtiefe Schlucht bildet. Über diesen Abgrund führen nur drei Brücken. Nähert man sich der Altstadt und fährt über eine dieser Brücken, dann denkt man unwillkürlich “Wow, das bauscht sich hier aber mächtig auf!" – und dabei hat man auch etwas Sorge, in den Abgrund der Erdgeschichte zu stürzen.
Bei meinem Besuch in Bern war ich mit einer kleinen Reisegruppe unterwegs – genauer gesagt der kleinstmöglichen Reisegruppe überhaupt: Wir waren zu Dritt. Wir fanden die Altstadt von Bern ganz putzig. Es gibt hier einen “Kindlifresserbrunnen”, der das Abgründige in der Berner Volksseele zu symbolisieren scheint. Ein Volk, das plattentektonisch so schnell aufgestiegen ist, muss sich seiner Abgründe ständig vergegenwärtigen. Vielleicht gehört die Berner Altstadt wegen dieser “Putzigkeit” auch zum Weltkulturerbe der UNESCO. Das Putzige rührt daher, dass alle Straßen und Bauwerke in diesem Stadtteil irgendwie historisch aufgemöbelt, aufgehübscht, aufgetakelt und aufgeräumt erscheinen. Wirklich hübsch, aber eben doch ein wenig aufgebauscht.
Bern ist – nebenbei bemerkt – nicht die Hauptstadt der Schweiz. Bei einer Einwohnerzahl, die der Heidelbergs entspricht, wäre dies auch ein wenig übertrieben. Dass Bern keine Hauptstadt ist, liegt allerdings nicht an den Bernern. Es liegt am Rest der Schweiz. Der Rest der Schweiz gönnt keiner Stadt, dass sie sich als Hauptstadt aufbauscht. Deshalb ist Bern, durch eine Entscheidung der Eidgenössische Bundesversammlung, seit 1848 einen sogenannte “Bundesstadt” – und nicht die Hauptstadt. Bern ist Hauptstadt de facto, aber nicht de jure. Die geopolitische Bedeutung von Bern wird aber dadurch entscheident aufgewertet, dass diese Stadt seit 1874 Sitz des Weltpostvereins ist. Sie hat ein Weltpost-Denkmal und ein Welttelegrafen-Denkmal. Auch dies lässt gewisse Rückschlüsse auf die Schnelligkeit der Berner zu.
Bei unserem abendlichen Streifzug durch Berns “Innere Stadt” konnten wir feststellen, dass die Berner in einer einzigen Sache sehr schnell sind: im Schließen von Lokalen. Nach dem Abendessen, es ging gegen Mitternacht, wollten wir uns noch etwas aufmöbeln und einen “Schlummerpunsch” nehmen. Die Bar in unserem Hotels war bereits geschlossen. Das zweite Lokal war de facto noch offen. Aber aus Mangel an Gästen schwitzte es eine Traurigkeit aus, die uns zum sofortigen Rückzug veranlasste. Bei der Suche in Berns putzigen Gassen fanden wir schließlich eine Hotelbar, die noch offen hatte.
Das Licht war hell, die Möblierung alpin-rustikal und die noch anwesenden Gäste waren zünftige Berner Stammgäste. Offensichtlich ist diese Bar seit 130 Mllionen Jahren ein Geheimtipp für nachtaktive Berner, im fortgeschrittenen Alter. An den Wänden hingen bemerkenswerte Gemälde, die an Pieter Brueghel den Älteren erinnerten. Allerdings waren alle Akteure auf diesen Gemälden Bären. Bären, die um roh gezimmerte Tische saßen und sich mit Krügen zuprosteten. Bären, die mit Laternen durch die Nacht liefen. Bären, die alles Mögliche taten – bemerkenswert und putzig.
Am Eingang der Bar stand eine Wurlitzer Musikbox. So etwas hatten wir seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Die Stammgäste warfen fleißig Räppli in diese Maschine. Auch die Songs, die ertönten, hatten wir seit Jahrzehnten nicht gehört. Diese Songs lieferten den eindeutigen Beweis dafür, dass in Bern die Uhren anders gehen. Es gibt nach meiner festen Überzeugung ausserhalb der Schweiz, keine Musikbox mehr, in der man “Der Mann mit der Mütze” von Udo Jürgens hören kann. Dieses Lied ist eine Hommage an Helmut Schön, der von 1964 bis 1978 Trainer der Deutschen Fußballnationalmannschaft war. Udo Jürgens schrieb dieses Lied nach dem Rücktritt von Helmut Schön. Der Refrain lautet:
“Der Mann mit der Mütze geht nach Haus.Helmut Schön gehörte nie zu den Schnellen. Er war eher bedächtig, langsam und blieb sehr lange im Amt. Es sei ihm gegönnt, dass irgendwo in Bern noch eine Wurlitzer Musikbox steht, die langsamen Bernern das hohe Lied des langsamen “Langen” singt. Langsam sollte ich allerdings die Sache mit dem Meretsalat erklären.
Die lange Zeit des Langen, sie ist aus.
Der Mann mit der Mütze geht nach Haus.
Und uns're Achtung nimmt er mit -
und unseren Applaus.”
In dieser Hotelbar gab es eine Getränke- und Speisekarte, auf der sich leider keine Cocktails fanden. Cocktails sind in Bern vermutlich noch relativ unbekannt. Wir tranken deshalb Weißwein, Bier und Mineralwasser. Angeboten wurde in der Rubrik “Speisen für den eiligen Gast” – man beachte die feine Ironie – ein Märitsalat. Wir bestellten ihn nicht, weil wir weder in Eile noch hungrig waren. Gesättig wie wir waren, fragten wir nicht einmal, was ein Märitsalat ist.
Bis heute wissen wir es nicht genau. Der Berner kommt wahrscheinlich erst in 130 Millionen Jahren dazu, den Märitsalat im Internet zu erklären. Gegoogelt liefert “Märitsalat” insgesamt 92 Einträge. Dabei handelt es sich um die Speisekarten und Wochenmenüs von Berner Restaurants. Rätselhaft bleibt, was genau ein Märitsalat ist. Meine Reisebegleiterin Nicole vermutete, es könnten Blatt- oder Marktsalat sein. Da die Website der Stadt Bern behauptet, “der Bärner Märit” biete bereits “seit Jahrhunderten Woche für Woche Erlebnisshopping”, und dazu das Bild eines Marktstands mit frischem Gemüse veröffentlicht, ist das eine ganz heiße Spur.
Wenn es in der Tat so ist, dass der Bärner Märit seit Jahrhunderten Erlebnisshopping bietet, dann ist das eine plausible Erklärung, für die Langsamkeit der Berner: Der Berner ist seiner Zeit weit voraus. Er kann es sich leisten, langsam zu sein. Mit Erlebnisshopping seit Jahrhunderten ist er uneinholbar für den Rest der Welt. Wir erinnern uns: Kein Land Europas hat sich so schnell aufgebauscht, wie die Schweiz – außer Österreich.
Trotzdem wären wir sehr dankbar für Hinweise auf die Beschaffenheit und die Zutaten zum Märitsalat. Gäbe es eine Wurlitzer Musikbox in Deutschland, die “Der Mann mit der Mütze” noch spielt, würden wir auch das gerne wissen.
Das Foto stammt von Frederic Pasteleurs und steht unter Creative Commons Licence.