Dienstag, 8. Mai 2007

Sind Nordfriesen langsam, oder nur wortkarg?


Mit Nordfriesland verbindet mich ein einziger Besuch, der viele Jahre zurückliegt. Ich bin nie wieder dort gewesen. Erst seit ich über die langsamen Berner nachdenke, erinnere ich mich wieder an die Nordfriesen. Wenn auch dieser Besuch im Norden nicht nur positive Erinnerungen weckt, möchte ich die Nordfriesen, im Rückblick, nicht ungerecht beurteilen. Während der Jahrmillionen, in denen sich die Schweizer von ganz alleine aufbauschten, mussten die Nordfriesen Dämme bauen und ihr Land dem “blanken Hans” entreißen.

Für ein Winterwochenende hatte ich mit meinen Freunden Markus und Uli ein Haus in Sankt Peter-Ording gemietet. Das Ferienhaus stand direkt am Deich. Vom Meer war nichts zu sehen. Aus Sicherheitsgründen war dies – wir konnten es vor Ort unschwer nachvollziehen – durchaus wünschenswert. Wir hätten aber doch lieber die Horizontlinie der Nordsee gesehen, statt des graugrasigen Deichabhangs. Was wir an diesem ersten Abend noch nicht wussten: Auch ohne Deich, hätten wir das Meer nur selten zu sehen bekommen. Die Ebbe entzieht es stundenlang den Blicken der Küstenbewohner und auch denen der auswärtigen Gaffer. Selbst bei Flut ist es meist nicht so richtig da. Es muss schon eine Springflut kommen, damit sich richtig was bewegt.

Etwas enttäuscht von unserem Haus am Deich, brachen wir am frühen Abend zu einem ausgedehnten Restaurant- besuch mit Pils, Korn, Krabben und Filets von Salzwiesenlämmern auf. Eine Stunde später waren wir wieder zurück. Alle Restaurants hatten geschlossen. Nur ein einziges kleines Lokal hatte noch offen und erlaubte uns eine Bestellung zu platzieren. Wir waren die einzigen Gäste und die Küche war fast geschlossen. Für jeden gab es noch einen Fisch, noch eine Beilage und nur noch ein Pils. Wieder zurück in unserem Haus ohne Ausblick, war uns klar: Die Gegend ist so tot, wie eine trockene Qualle am Strand.

“Tot”, das ist die ultimative Steigerung von “langsam”. Erst kommt “langsam”, dann kommt “langsamer”, danach kommt “tot”. Und danach kommt nichts mehr. Es gibt Menschen, die bezeichnen ein kohlensäurehaltiges Getränk, das keine Kohlensäure mehr enthält, als “tot”. Sie schauen es dabei mitleidig an und wenden sich ab. Bisher habe ich diesen Zustand als “alt”, “lasch”, “lax”, “fad” oder “schal”, im Sinne von “ohne Geschmack”, bezeichnet – und manchmal trotzdem getrunken. Jetzt, da ich weiß, dass dieses Getränk tot ist, werde ich mich hüten.

“Tot” ist der Superlativ von vielen weiteren Zuständen. Denken wir nur daran, dass der Schlaf als “großer Bruder” des Todes bezeichnet wird. Oder an den Satz, “Jeder Abschied, ist ein kleiner Tod.” Im Sport gibt es den Begriff “sudden death”. Eine Leitung ohne Verbindung ist “tot”. Nach einem anstrengenden Tag ist man “tot”. Da liegt es auf der Hand, dass “tot” keine Steigerung erlaubt. “Toter” als “tot”, das gibt es nicht. “Am Totesten” schon gar nicht. Aber da gleiten wir jetzt ins Philosophische - dabei geht es lediglich um Nordfriesland und die Nordfriesen.

Nordfriesland ist im Winter definitiv tot. Die Bewohner sind es ganz sicher nicht. Hätte uns ein toter Kellner und ein toter Koch einen toten Fisch, mit gedünsteten Beilagen und einem guten Pils servieren können? Natürlich nicht. Wäre die Frage “Sind Nordfriesen tot, oder nur wortkarg?” interessant? Ebenfalls nicht. Es geht darum, ob sie “langsam” oder “wortkarg” sind.

An unserem zweiten Tag in Sankt Peter-Ording tranken wir Pharisäer und gingen im Watt spazieren. Danach tranken wir nochmal Pharisäer und spazierten über eine Sandbank. Zum Abschluß tranken wir einen Pharisäer. Am späten Abend wollten Markus und ich noch etwas unternehmen. Uli hatte bereits resigniert. Er blieb hinter dem Deich im Haus mit einem Buch. Markus und ich fuhren durch das menschenleeren Sankt Peter-Ording. Auf der Suche nach einem kleinen Licht, das uns die Geselligkeit einer nordfriesischen Pilsstube hätte verkünden können, bewegten wir uns wie in einem dunklen Tiefseegraben. Wir erwogen die Möglichkeit, in die nächste größere Stadt zu fahren. Da sahen wir, einige Meter entfernt, einen Nordfriesen, der die Straßenseite wechselte. Wir fuhren hin, und stellten ihm die einzige uns bewegende Frage: "Wo gibt's noch was zu trinken?”

Nordfriesen, das sollte man wissen, können mit nur einem Wort, alles Wichtige sagen. Dieses eine Wort heißt “Moin”. Der typische Ablauf eines nordfriesischen Gesprächs ist standardisiert:

Erster Nordfriese: “Moin” – danach Pause.
Zweiter Nordfriese: “Moin Moin” – danach bis zu 24-Stunden Pause.


Dieser Dialog findet ohne hörbare Satzzeichen statt. Erstaunlich ist, dass diese Sätze zu allen Tages- und Nachtzeiten vollkommen unverändert gesprochen werden. Nordfriesen handeln seit Generationen instinktiv nach einem Postulat des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein: “Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen”. Mit “Moin” und “Moin Moin” ist alles, was sich sagen läßt, gesagt. Selbst wenn wir “Zugereiste” es nicht verstehen. Ein Wert lässt sich, nach Wittgenstein, nicht aussprechen, höchstens „erschweigen“. Die Nordfriesen wissen das. Sie wissen auch, “daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen” und dies “eine Hauptquelle unseres Unverständnisses” (Wittgenstein) ist.

Im Westerwald gibt es übrigens eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so strenge Einsicht. Der Westerwälder sagt: “Wir reden nicht von Dingen, die uns durcheinanderbringen!” Über was der Westerwälder tatsächlich redet, weiß ich nicht, da ich noch nie dort war. Der einzige Westerwälder, den ich kenne, hält sich absolut nicht an diese Volksweisheit – aber dieser Mensch behauptet auch Schwede zu sein.

Die Nordfriesen übersehen den Gebrauch des Wortes “Moin” vollkommen. Während sie ihre Aufmerksamkeit auf den Deich, den Trecker, die Kuh, das Pils oder den Korn richten, ist auf der verbalen Ebene eine Beiläufigkeit festzustellen, die weltweit beispiellos ist.

Einem dieser Nordfriesen hatten wir also eine Frage gestellt. Hätte er mit “Moin” geantwortet, wären wir komplett aufgeschmissen gewesen. Der Nordfriese vermied die unübersehbaren Konsequenzen einer Antwort. Er sagte nichts. Er hob seinen rechten Arm, deutete mit seinem Zeigefinger in Fahrtrichtung, bog den Zeigefinger nach links ab und bewegte zum Abschluß den ganzen Arm in diese Richtung. Damit war alles getan und er setzte seinen Weg fort.

Tatsächlich fanden wir, mit diesen knappen Angaben, ein Licht. Wir parkten, traten ein und sofort erstarb jedes Gespräch. Wir können nicht beschwören, dass es überhaupt Gespräche gegeben hat. Jedenfalls starrten uns alle an. Im Gastraum waren rund zehn Personen. Die Hälfte davon saß an der Bar. Die andern an den Tischen, teilweise auch allein vor ihrem Deich, Trecker, Korn oder Pils. Der ganze Raum war mit Nut- und Federbrettern ausgekleidet. Sogar die Decke. Die ganze Dekoration war auch noch geflammt. Der Norden war plötzlich im Wilden Westen – oder kondensiert, im Bild eines Partykellers der späten 60er-Jahre. Selbst ein Wirt war anwesend, der wie alle anderen schwieg. Alle starrten uns an. Ihre Gedanken standen wie der Bierdunst in der Luft: “Fremde sind in der Stadt!” Wir tranken schweigend ein Bier und fuhren zurück in das Haus am Deich.

Am folgenden Tag aßen wir Mittags ein Salzwiesenlammfilet. Auf dem Weg zum Jever-Leuchtturm, gab es Nordseekrabben an einem Kiosk. Am Abend blieben wir im Haus am Deich.

Nach diesen langen Jahren, in denen Nordfriesen keine Rolle in meines Gedanken gespielt haben, kann ich die mir selbst gestellte Frage eindeutig beantworten: Nordfriesen sind nicht langsam. Wenn die Küche schließt, servieren sie eine toten Fisch in Windeseile. Das Pils steht kurz nach der Bestellung wortlos auf dem Tresen. Auf Fragen reagieren sie wortlos, schnell und präzis. Nordfriesen sind auf ihre Art unglaublich “though” – aber man sollte sie nicht im Winter besuchen.

Das Foto stammt von Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

was für ein hirnloser beitrag. hätte man sich auch sparen können!