Montag, 21. Mai 2007

“Guanchen” in Straßenbahnen


“Guanchen" begegnen einem auf Schritt und Tritt – vorausgesetzt man befindet sich auf den kanarischen Inseln. Bewegt man sich im kontinentalen Teil Europas, dann sind “Guanchen” weitgehend unbekannt. Als Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ist mir noch nie einer in der Straßenbahn begegnet. Anders als beispielsweise Türken, Albaner, Serben, Kroaten, Usbeken, Ukrainer, Georgier, Russen und Weißrussen. Es scheint, als spiele der “Guanche" für die europäische Integration überhaupt keine Rolle. Wenn wir uns da nur nicht täuschen.

Straßenbahnen sind ein ganz eigenes Biotop. Nicht nur, weil man beim Anblick der Sitzbezüge unweigerlich an grellbunte Bakterienkulturen in Petrischalen denkt und sich wünscht, man hätte Latexunterwäsche an. Auch deshalb, weil sich dort die sogenannten Parallelgesellschaften von A nach B bewegen lassen. Als Leasingnehmer eines Wagens der gehobenen Mittelklasse hat man davon natürlich keine Ahnung. Als solcher bewegt man sich klimatisch konditioniert, satellitengestützt, mit Surroundsound und in selbstverschmutzten Sitzen. Aber in Straßenbahnen, da sieht die Welt ganz anders aus.

Die Parallelgesellschaften in Straßenbahnen - dieser Deutung will ich vorbeugen – bestehen nicht einfach nur aus Türken, Albanern, Serben, Kroaten, Usbeken, Ukrainern, Georgiern, Russen und Weißrussen. Sie bestehen aus weiblichen und/oder alten Türken, Albanern, Serben, Kroaten, Usbeken, Ukrainern, Georgiern, Russen und Weißrussen. Junge männliche Türken, Albaner, Serben, Kroaten, Usbeken, Ukrainer, Georgier, Russen und Weißrussen fahren meist dicke BMWs und hören Musik, die beim Eurovision Songkontest eine reele Siegchance hätte, die aber die deutschen Leasingnehmer eines Wagens der gehobenen Mittelklasse niemals hören würden. Die Parallelgesellschaften der weiblichen und/oder alten Türken, Albaner, Serben, Kroaten, Usbeken, Ukrainern, Georgiern, Russen und Weißrussen in Straßenbahnen wird komplettiert von älteren Deutschen, die in der Mehrzahl weiblich sind. Zu den, in der Straßenbahn beobachtbaren Parallelgesellschaften, gehören also neben weiblichen und/oder alten Türken, Albanern, Serben, Kroaten, Usbeken, Ukrainern, Georgiern, Russen und Weißrussen auch unsere älteren deutschen Mitbürgerinnen. Wie die da reingeraten sind, das ist eine ganz andere Geschichte. “Guanchen” jedenfalls sind keine Parallelgesellschaft – weder in Straßenbahen noch sonstwo.

Die “Guanchen” sind die Ureinwohner der Kanaren. Sie waren groß, blond, blauäugig aber dunkelhäutig. Sie lebten in Erdhöhlen, kleideten sich in Felle, kannten weder Rad, Pflug noch Boote, ernährten sich von geröstetem Getreide und hauten 1495 in der Schlacht von La Matanza den spanischen Eroberern kräftig auf die Nüsse. Ein Jahr später machten die Spanier Tabula Rasa und die Guanchen waren Weg vom Fenster. Die Bewohner der Kanaren finden das nach wie vor nicht richtig und hängen an ihren Ureinwohnern. Dabei heißen die meisten Bewohner der Kanaren mittlerweile Sanchez, Ruiz, Gimenez oder Blanes. Genaugenommen ist von den “Guanchen” kaum was übrig geblieben – außer der Verehrung, die ihnen auf den Inseln auf Schritt und Tritt zuteil wird. Die “Guanchen” sind auf den Kanaren sehr überbewertet. Im Rest von Europa sollte man die “Guanchen” trotzdem auf der Agenda haben. Ihre Art sich fortzubewegen war beispielsweise etwas ganz Besonderes.

Die “Guanchen” hatten ihre eigene Methode von A nach B zu gelangen. Bis 1495 benötigten sie dafür keine Straßenbahnen. Sie benutzten lange Stöcke und sprangen in der Art von Stabhochspringern von Hang zu Hang. Um sich dieses mühselige Geschäft etwas zu erleichtern, erfanden sie eine eigene Silbensprache, die aus Pfiffen bestand. Diese Sprache existiert heute noch und heißt “El Silbo”. Bevor der “Guanche” also von Hang zu Hang sprang, versuchte er erstmal seinem Gegenüber auf der anderen Talseite durch Pfiffe beizubringen, was Sache war. Klappte das nicht, oder war ein Schaf weggelaufen, dann kam der Stab zum Einsatz.

Ich war in den späten 90er-Jahren zum ersten Mal auf den Kanaren. Auf Gomera, im Valle Gran Rey, hörte ich zum ersten Mal “El Silbo” und erlebte Mitte Dezember den ersten deutsche Weihnachtsmarkt auf dieser Insel. Es gab einige Tapeziertische mit Fimobroschen, Strohsternen, Selbstgebackenem und anderem Tand. Anschließend spielte eine Gruppe, deren Musik von den ganz besonders magischen Erdstrahlen an diesem Ort inspiriert war. In diesen Tagen liefen mein Freund Eckart und ich jeden Morgen von unserer Unterkunft, am alten Hafen, zur Playe Ingles. Ein ganz flaches, gerades Stück, mehrere Kilometer lang. Wir hatten die Idee, dass eine Straßenbahn, den Tourismus an dieser Ecke der Welt entscheident nach vorne bringen könnte. Eine Trasse durch die Bananenplantagen wäre einfach zu bauen und die Fahrt zur Playa Ingles und zurück wäre fortan bequem und pitoresk.

Im Frühjahr 2007 war ich wieder auf den Kanaren. Die Hauptstadt Teneriffas, Santa Cruiz, war eine einzige Baustelle. Plakate verkündeten, dass die Straßenbahnlinien, der Grund für die Baumaßnahmen, rechtzeitig fertig sein würden. Allerdings viel zu spät für die “Guanchen”.

Man sollte an dieser Stelle hinzufügen, dass die “Guanchen” nicht nur blond und blauäugig waren, sondern recht tumbe und grobe Gestalten, die noch im 15. Jahrhundert auf ihren paar Inseln als neolithische Analphabeten lebten und sich gerne mit Tierfett einschmierten. Aus heutiger Sicht mag man sie mögen – vor allem dann, wenn man als Kanare wenig anderes, historisch Bedeutsames, vorzuweisen hat und sich jeden Sommer der Invasion der Aragonesen, Kastilier, Katalanen, Galizier, Anadalusier mit ihrer reichen Geschichte erwehren muss. In den neuen Straßenbahnen von Santa Cruz wären die “Guanchen” heute allerdings eine recht deutliche Parallelgesellschaft. Schon einige wenige “Guanchen”, ausgestattet mit einer Monatskarte und nach Tierfett riechend, würden dazu führen, dass die Kanaren ihre Einstellung zur eigenen Geschichte sehr schnell überdenken würden.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Worin besteht also der Beitrag der “Guanchen” zur europäischen Integration? Erstens: Es ist ganz nett, sich an Mythen zu orientiren, aber Straßenbahnfahren hilft, um Mythen auf ihre Alltagstauglichkeit zu überprüfen. Zweitens: Straßenbahnfahren hilft auch, um über Parallelgesellschaften auf dem Laufenden zu sein. Drittens: Parallelgesellschaften mögen auf den ersten Blick Ausdruck eines kulturelle Unterschieds sein. Auf den zweiten Blick, sind sie nur der Ausdruck eines altbekannten Unterschieds: dem zwischen Arm und Reich. Arm fährt Straßenbahn, reich ist Leasingnehmer. Die “Guanchen” hatten Glück. Hätten die Spanier sie nicht ausgerottet, müssten sie heute und bis in alle Ewigkeit Straßenbahn fahren.

Das Foto stammt von Wikimedia Commons und steht unter Creative Commons Licence

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