Mittwoch, 23. Mai 2007

De Jean vum Newedisch – Entropie im Internet


“De Jean vum Newedisch” war einmal eine Kolumne in der Frankfurter Rundschau. Belanglose Gespräche, aufgeschnappt am Nebentisch, wurden auf ihren tieferen Gehalt untersucht. Nach dem Motto “Volkes Mund, tut Wahrheit kund!”, kam dabei so manche Perle zu Tage. Im World Wide Web gibt es heute unzählige Jean‘s und ihre Zahl nimmt täglich zu. Auch die Nebentische sind zahlreicher geworden. Im Web 2.0 wird die ganze Welt zum Nebentisch. Ein untrügliches Zeichen von Entropie.


Entropie ist ein schillernder Begriff, der mich schon lange fasziniert. Das Schillernde rührt daher, dass Entropie einen sehr abstrakten physikalischen Sachverhalt beschreibt, der sich alltagspraktisch allerdings sofort nachvollziehen läßt. Entropie ist – so eine der einfachsten Definitionen – das Maß für die spontane Zunahme der Unordnung im Raum. In der Spontaneität dieses Ablaufs liegt das Spannende. Nehmen wir mal mein Kinderzimmer im Jahre 1964. Betrachten wir dieses Zimmer als geschlossenes System. Ohne Zutun irgendeines lebenden Wesens, nahm in diesem geschlossenen System die Entropie spontan zu. Wenn mein Mutter dies bemerkte, sagte sie: “Du könntest mal wieder Staub wischen.”

Fügte man diesem geschlossene System mich hinzu, und würde ich wirklich nur spontan agieren – also nicht Staubwischen – nähme die Unordnung im Raum ebenfalls zu - und zwar schnell. Das ist, seit ich denken kann, meine Erfahrung mit Räumen, in denen ich mich befinde. Einige Zeit hat mich das als persönlicher Makel verfolgt und deprimiert. Seit ich weiß, dass dahinter ein universelles physikalisches Gesetz steckt, komme ich besser zurecht.

Interessant ist eine Methode, mit der man die Entropie kurzfristig in Griff bekommen kann. Meine Mutter war, ohne es zu wissen, Entropiespezialistin. Sie veranlasste mich, durch sanften Druck, die Entropie in meinem Zimmer nicht ausufern zu lassen. Sie benutzte dafür das Wort “aufräumen”. In physikalischen Begriffen formuliert, habe ich nicht aufgeräumt, sondern dem “System Zimmer” Information hinzugefügt: Legosteine in diese Kiste, Matchbox-Autos in die andere Kiste, Stofftiere aufs Bett, Klamotten in den Kleiderschrank oder in die Wäschebox – und Staubwischen. Information ist das einzige wirksame Mittel gegen Entropie. Bei ausufernder Entropie findet man nichts mehr. Fügt man einem Zimmer Information hinzu – was recht mühsam sein kann – weiß man, wo die Legosteine sind. Dass einem danach immer noch gelbe Zweier fehlen, steht auf einem anderen Blatt.

Man kann sich ein Leben lang abmühen und seinem Zimmer, seiner Firma, seinem Arbeitsplatz Information hinzufügen – in ganz großen Dimensionen gedacht, wird man scheitern. Die Experten sind sich da einig. Zimmer aufräumen nutzt nix. Am Ende wird das gesamte Universum an spontan zunehmender Unordnung zugrunde gehen. Es stirbt, so die Experten, den Wärmetod. Das ist übrigens auch schlecht für Eisbären.

Wenn man in Gesellschaft mal ein wenig angeben will und sich sibyllinisch ausdrücken möchte, dann kann man statt von Entropie, auch von Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sprechen. Den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik kennt im Grunde jeder. Nur in der Konversation spielt er meist keine Rolle, obwohl man damit gut Frauen anmachen könnte. Generationen von Physiklehrern haben seinen Ruhm begründet. In einfachem Schuldeutsch, handelt es sich um den Energieerhaltungssatz. Sprich: Zündet man mit einem Feuerzeug eine Zigarette an, dann steigt die Raumtemperatur. Oder: Bremst man sein Auto, schmilzt ein Gletscher. Die leicht mystische Form ist: Bläst man ein Kerze aus, dann stirbt ein Seemann. Das ist allerdings nicht bewiesen.

An der Thermodynamik ungemein interessant ist, dass es auch einen Nullten Hauptsatz gibt. Darauf möchte ich jetzt aber nicht eingehen. Für Leute, die bei belanglosen Gesprächen Eindruck schinden möchten, sei nur soviel erwähnt: Der Nullte Hauptsatz erklärt, warum ein Thermometer, das in Kontakt mit dem zu messenden Objekt steht, die Temperatur überhaupt messen kann. Man merkt schon, wie interessant Thermodynamik sein kann. Für Leute, die jetzt voll darauf abfahren, sei erwähnt, es gibt da auch noch einen Maxwellschen Dämon, der in dieser Sphäre sein Unwesen treibt.

Nach dieser kurzen Vorrede, zurück zu Jean und den Nebentischen: Werden die Nebentische zahlreicher und sitzt an jedem ein Jean, dann nimmt das Grundrauschen zu. Man weiß, an den Nebentischen wird gesprochen, aber man versteht nichts mehr. Das kann ganz gehörig nerven. Entropie ist nicht nur das Maß für die Zunahme der Unordnung im Raum, es ist auch das Maß für die Zunahme des Unwissens. Man weiß eben mehr über eine aufgerümte Schublade, als über eine unaufgeräumte. Nimmt die Entropie zu, dann nimmt das Wissen ab. Dafür bin nicht ich verantwortlich, das ist Physik. Web 2.0, das ist User-Generated-Contend, das sind Blogs, das sind Tag-Clouds und das ist Wikipedia. Nebentische über Nebentische. In der virtuellen Welt schreitet das Unwissen schneller voran, als in der wirklichen Welt. Das World-Wide-Web ist Vorreiter in Sachen Entropie. Schlaue Menschen kaufen sich ein Lexikon oder lesen Bücher.

Am Beispiel der Tag Clouds wird das deutlich: Tag Clouds sind im Grunde gewichtete Listen. Man kann auch “Wichtel-Listen” dazu sagen. Das was die Vielen interessiert, wird hervorgehoben. Das was hervorgehoben wird, interessiert die Nächsten. Dies führt zur weiteren Hervorhebung des Hervorgehobenen – kurz gesagt: zu Uniformität. Web 2.0 ist Herdentrieb pur. Dadurch verschwindet die Differenz, der Unterschied. Alles eine Soße.

Zweites Beispiel Wikipedia: Wikipedia-Inhalte sind frei. Sie werden kopiert und zitiert. Sucht man im Internet Informationen, dann steht häufig Wikipedia ganz vorne. Liest man die nachfolgenden Fundstellen, dann findet man oft Wikipediainhalte auf anderen Webseiten. Das entropische Kopieren ist insofern korrekt, als es darauf hinweist, dass die Inhalte aus Wikipedia übernommen wurden. Das Resultat ist trotzdem erschütternd. Man findet Wikipedia-Inhalte bei jedem weiteren Klick – schlauer wird man nicht.

Da Lob ich mir den alten Jean vom Nebentisch und eine gute Eckkneipe. Meine Prognose: Bevor der letzte Gletscher geschmolzen ist, wird das World-Wide Web den Wärmetod gestorben sein.