Samstag, 28. April 2007

Drei Brokatkissen


Es scheint eine Frage des Alters zu sein, Kissen, die auf Sofas sitzen, wohlwollend wahrnehmen und schätzen zu können.

Kissen, die nicht in Betten liegen, sondern Wohnräume verschönern, habe ich, so lange ich Denken kann, meist in einen negativen Zusammenhang gebracht. Dies kommt wohl daher, dass in meiner Kindheit die Couchkissen meiner Mutter immer Anlaß für Zwist, Übellaunigkeit und Türenschlagen waren. Diese Kissen – drei an der Zahl – aus Goldbrokat und mit Bordüren an den Nähten, saßen rechts, links und in der Mitte der Couch. Durch einen Handkantenschlag meiner Mutter, wurden sie in eine Form gebracht, die entfernt Ähnlichkeit mit einem Herz hatte, allerdings mit zwei spitzen Zipfeln, die eher an die Zitzen einer stillenden Hündin erinnerten.

Brokatkissen, das möchte ich vorausschicken, haben unangenehme Eigenschaften. Der Stoff ist sehr steif. Wenn Metallfäden, wie im vorliegenden Falle, mitverarbeitet wurden, fühlen sich diese Kissen wie Sandpapier an. Da hilft es auch nichts, wenn die Ränder aus Samt bestehen. Das Ganze ist im Grunde so unangenehm, dass man sich selbst als Heranwachsender, der Frage nicht entziehen kann, “Ist kultureller Fortschritt nur eine Fiktion?”

Drei Kissen hatten unsere Wohnzimmercouch vollkommen okkupiert. Immer wenn ich es mir dort gemütlich gemacht hatte, nahm das Unheil seinen Lauf. Ich war nämlich vollkommen außerstande diese drei Usupatoren anschließend wieder in ihre zitzenhafte Daseinsform zurückzuversetzen. Selbst wenn ich ihnen einen sanften oder auch einen derben Handkantenschlag versetzte – es gelang mir nie, diese eigenartige Bauchigkeit an der Basis herzustellen, die allein für einen festen Stand und eine akkurate Position sorgte. Bei mir sah das immer aus, wie die eilig vertuschten Spuren meiner mittäglichen Couchbesuche und die stolzen Couchbesatzungstruppen ähnelten danach einer Bande von besoffenen Söldnern.

Die kleinbürgerliche Akkuratesse meiner Mutter und die militärische Ausrichtung der Brokatsoldaten hatte in den späten 6oer-Jahren – und von dieser Zeit reden wir hier – selbstverständlich ihre Weiterungen. Wenn jemand schon inmitten des Wirtschaftswunders aus seiner Couch ein Instrument militärischen Drills macht, was hatte der während des Dritten Reiches eigentlich getan? Oder auch nicht getan? Eine Antwort auf diese Frage gab es niemals.

Diese Dimension der Auseinandersetzung um Brokatkissen wurde erst in den späten 60er Jahren erreicht. Davor war die ganze Sache aber auch nicht viel einfacher. Denn meine Daseinsbetrachtungen auf der elterlichen Couch endeten immer damit, dass meine Mutter aus dem Wohnzimmer durch die Wohnung rief: “Wenn Du schon die Kissen nicht in Ordnung bringen kannst, dann räum wenigstens dein Zimmer auf!” Es gab unzählige Variationen, dieser “Wenn-Dann-Beziehung”: “… dann bring wenigstens den Mülleimer runter!”, “… dann putz wenigstens dein Fahrrad!”, “… dann saug wenigsten Staub!”, “… dann hol wenigstens Getränke aus dem Keller!”

Im Nachhinein wundere ich mich, wie geistesgegenwärtig meine Mutter, im Angesicht der betrunkenen Söldnertruppe auf ihrer Couch, immer einen Arbeitsauftrag für mich zu formulieren wusste. Vor diesem Hintergrund ist es wohl nachvollziehbar, dass bis vor einigen Monaten Couchkissen in meinem Leben keine Rolle mehr spielten. Ich ging ihnen bei Besuchen in anderen Wohnungen nicht aus dem Weg, aber ich schaffte mir auch keine an. Sie spielten schlichtweg, seit meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung, keine Rolle mehr. In meinem Universum kamen sie nicht mehr vor. Ich sah sie nicht, ich hatte keins und ich war nicht unglücklich in dieser couchkissenlosen Welt.

Bis vor fünf Monaten. Auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für eine liebe Freundin, geriet ich in einen Laden von der Art, wie man ihn als heterosexueller Mann eher meidet: Tischwäsche, Stoffe und Accessoires. Die Farben im Schaufenster waren Klasse. Ganz tolle Kissen in Stoffen, die meiner Freundin vielleicht gefallen würden. Ich ging hinein, kaufte und kam heraus mit zwei Kissen. Soweit ich mich erinnern kann, war ich an diesem Tag gut gelaunt. Dies mag dazu beigetragen haben, dass ich zwischen diesen tollen Stoffen, Tischläufern, Accessoires und Kissen ein wenig die Kontrolle über mein Universum verlor. Mag sein, dass ich mich zwischen zwei Kissen auch nicht schnell genug und definitiv zu entscheiden vermochte. So stahl sich dann der Gedanke in mein Bewusstsein, dass ich eines der Beiden für mich kaufen könnte. Einfach und ganz pragmatisch deshalb, um den Entscheidungsprozess noch etwas aufzuschieben.

Zu Hause packte ich beide Kissen aus. Probierte, wie sie sich ohne Knick und Akkuratesse auf meiner Couch machten. Legte beide unter meine Kopf, fühlte wie sie sich anfühlten und entschied das buntere von beiden als Geschenk zu verpacken. Das andere war eher unifarben und hatte an den schmalen Seiten, statt der mir nach wie vor verhaßten Fransen, einen Fellbesatz. Schon am gleichen Tag, und dieser Zeitpunkt läßt sich genau bestimmen, wurde das mir bisher bekannte Universum, um das Couchkissen erweitert. Während der Sportschau, am 16. Dezember 2006, stand die Partie zwischen Alemania Aachen und dem Hamburger SV zur Halbzeit 0:1 für Hamburg. In der zweiten Halbzeit fielen noch fünf Tore und die Partie endete 3:3. Nach diesen rund fünf Minuten Übertragungszeit und den Toren und Gegentoren, hatte ich mein Couchkissen im Arm und meine Nase in den Fellbesatz getaucht.

Couchkissen, so weiß ich jetzt, vernünftig dosiert und angewendet, stiften Trost und Sicherheit in turbulenten Zeiten. Darüber hinaus aber, und das ist jetzt eine weitere Weiterung des Themas, sind sie eine kulturhistorisch ganz bedeutsame Erfindung. Sie waren ganz sicher vor der Couch da, vor dem Sofa, sogar vor dem Sessel und vor dem Stuhl. Ganz sicher ist das Kissen älter als das Rad. Vielleicht stand am Anfang ein Haufen Blätter, gepackt in eine Tierfell und das alles passierte irgendwo und irgendwann in der Bronzezeit. Nach meiner Recherche gibt es keine “Kulturgeschichte des Kissens”. Und das, obwohl das Kissen in der Geschichte der Menschheit mit Sicherheit eine wichtige Rolle gespielt hat. Friedenspfeifen, so wissen wir alle, werden nicht im Stehen geraucht. Ich räume ein, auch nicht auf Kissen, sondern, soweit wir aus einschlägigen Indianerfilmen wissen, im Schneidersitz ohne polsternde Unterlage. Aber zum Frieden gehört nun mal “sitzen”. Und so wäre eine “Kulturgeschichte des Kissens” untrennbar verknüpft mit einer “Kulturgeschichte des Sitzens”. Ganz interessant finde ich deshalb folgendes Zitat:

“Erst durch den Entscheid zur Sesshaftigkeit hört die Welt auf, ununterbrochen unter den Füssen zu entstehen. Die damit einsetzende Beengung der Befindlichkeit wird kompensiert durch die Aneignung von Macht: gegenüber der Erde, die nun mit Werkzeugen bearbeitet wird (ein Tabu bei den Nomaden), und durch das Erbauen von künstlichen Welten und Ordnungen in Form von Städten.” (Kultur- und religionsgeschichtliche Notiz zum Sitzen).

Dass die Welt aufhört “ununterbrochen unter den Füssen zu entstehen” ist ein interessanter Gedanke. Die “Beengung der Befindlichkeit” im Zusammenhang mit “Aneignung von Macht” ebenfalls. Ich sage nochmals: Frieden wird nur im Sitzen geschlossen und Kissen haben daran ihren Anteil. Im Sitzen wird aus einem Machtgefälle ein Dialog der anscheinend Gleichen. Im Sitzen ist die körperliche Auseinandersetzung ausgesetzt. Das Machtgeklüngel wird geduldig ausgesessen. Die islamische Welt hat auch im 21. Jahrhundert weltweit die besten Kissen. Das sollte man bei allen diplomatischen Initiativen im Auge behalten.

Ich würde allerdings jede Wette eingehen, dass schon die Nomaden, den praktische Wert des Kissens für eine angenehmes Herumstreunen zu schätzen wussten. Kissen sind einfach zu transportierende Gegenstände, die deshalb wahrscheinlich in Nomadenkulturen entstanden sind, genauer an der Schwelle zur “Sesshaftigeit”. Noch heute haben viele Menschen auf Reisen ihr eigenes Kissen im Gepäck. Dies hat nicht nur praktische Gründe, sondern das Kissen ist oft auch ein Stück “mobiles Zuhause”. Ein Kissen braucht zwar Platz, aber es hat kaum Gewicht. Es ist ideal dafür, ein Stück Heimat in der Fremde zu sein.

Seit Gestern hab ich ein weiteres Kissen. Das hat einen Bezug aus Tierfell. Ich hab es “Knut” genannt. Drinnen sind keine Blätter, sondern Daunen und es liegt nomadenhaft auf meiner sesshaften Couch.

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